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Moralisch empfindsam in unmoralischen Zeiten
Von Stefan Müller-Doohm
Die Minima Moralia, ein Bestseller des Verlages. Das einfallsreich gestaltete Titelbild von Willy Fleckhaus aus dem Jahr 1964 gehört zur letzten Auflage, die zu Lebzeiten Adornos herauskam. Die Gesamtauflage liegt heute bei 105.000. |
Oldenburg. Die Publikation der Aphorismen-Sammlung stand noch in weiter Ferne, als Adorno von 1944 an tagebuchartige Aufzeichnungen zu Papier brachte. Dazu kam es erst im März 1951. Der nur wenigen Insidern bekannte Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und Literaturkritiker war gerade aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt a.M. zurückgekehrt, um die Trümmer im geistigen Bereich beiseite zu schaffen, die das Dritte Reich hinterlassen hatte. Diese geschichtliche Erbschaft - das leibhaftige Erleiden von Vertreibung und Gewalt als Signatur der Epoche, die Erschütterung über den unbegreiflichen Zivilisationsbruch, für den der Name Auschwitz steht - ist eine Faktizität, die sich dem Remigranten als schmerzhafter Komplex zeitgeschichtlicher Erfahrungen aufdrängt. Diesen Erfahrungen versucht sich Adorno in den Minima Moralia zu stellen. Er bedient sich der letzten, deshalb vielleicht besten Mittel, die dem Intellektuellen verbleiben, wenn ihn der Geschichtsverlauf marginalisiert: der Mittel eines offensiven Denkens. Adornos opponierende Impulsivität wächst im Maße der Betroffenheit, mit der er sich über das Grauen der Epoche in all seinen Erscheinungsformen Rechenschaft zu geben versucht. Nicht nur die Nichtigkeit des Menschen im Totalitarismus ist Gegenstand seiner Kritik, er registriert auch die Verfallstendenzen des Individuums in der verwalteten Welt, warnt vor dem allgegenwärtigen Einfluss der Kulturindustrie und beklagt das Illusorische individuellen Glücks in der Spätphase der bürgerlichen Gesellschaft, wie die Liebe, die Schönheit und die Kontemplation.
Das Grauen jenseits des Gartenzauns
Der zugleich wütende und traurige Blick des Zeitdiagnostikers reicht während der Exiljahre weit über den Zaun seines idyllischen Gartens, den das Einfamilienhaus in Santa Monica unweit vom Sunset Boulevard umgibt. Vom sicheren Ort aus notiert er, dass das Leben zu einer zeitlosen Folge von Schocks geworden sei, vermittelt durch jene täglichen Zeitungs- und Wochenschaubilder über weltweite Kriege und systematische Menschenvernichtung, beides ein mechanisch ablaufender Automatismus. Weder die relative Sicherheit der materiellen Lebensumstände in der Nähe von Los Angeles noch die grandiosen Blicke auf den in der Ferne glänzenden Pazifik haben Adorno verführt, sich über das Illusionäre des zufälligen Entronnenseins zu täuschen. Wie schön wird zur Ausrede für die Schmach des Daseins, das anders ist, und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungeminderten Bewußtsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält (S. 21).
Die amerikanischen Emigrationsjahre hat der europäisch geprägte, aber kosmopolitisch orientierte Bildungsbürger als eine Zeit der Isolation empfunden, mehr eine von der eigenen Sprache, der europäischen Kultur und ihren Ausdrucksmöglichkeiten, als eine von Menschen. Denn Adorno stand in teils freundschaftlichem Kontakt mit vielen emigrierten Literaten und Künstlern wie Bertolt Brecht, Thomas Mann, Bruno Walter, Otto Klemperer, Ernst Krenek, Hanns Eisler, Wilhelm Dieterle, Greta Garbo, Salka Viertel. Darüber hinaus hatte sich zu dieser Zeit ein produktiver Arbeitszusammenhang mit Max Horkheimer hergestellt, der sein Domizil wenige Autominuten entfernt in Pacific Palisades hatte, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Familie Mann, bei der auch Adorno häufig zu Gast war. Nicht nur ging es darum, mit dem Zauberer über Musiktheoretisches im Zusammenhang mit dem damals entstehenden Roman Dr. Faustus zu diskutieren. Adorno nutzte die Gelegenheit und trug im erlesenen Kreis erste Entwürfe seiner Aphorismen vor.
Die ersten zwei Teile des Manuskripts seiner Aphorismensammlung widmet er Max Horkheimer als Dank und Versprechen zu dessen fünfzigstem Geburtstag im Februar 1945, in einer Zeit, die beide schon wieder, örtlich getrennt, zur Knochenarbeit der empirischen Sozialforschung zwingt. Im Rahmen eines Antisemitismus-Projekts ist Adorno für die in Berkeley durchgeführten Studien zum autoritären Charakter mitverantwortlich. Die Spuren dieser Studie über die Reaktionsmuster der antisemitistisch und faschistisch disponierten Persönlichkeitsstruktur sind in Adornos aphoristischen Reflexionen ebenso ausgeprägt wie sie an vielen Stellen auf die Motive der geschichtsphilosophischen Selbstvergewisserung mit Horkheimer zurückgreifen, die in dem Gemeinschaftswerk der Dialektik der Aufklärung entfaltet sind.
Adornos phänomenologisch orientierte Beobachtungen registrieren mit Schrecken, was sich geschichtlich vollzieht. Die bürgerliche Welt macht im totalitären Europa und egalitären Amerika gleichermaßen einen Prozess fortschreitenden Zerfalls durch. Was zurückbleibt, sind keine Wirklichkeit gewordenen Utopien, sondern Berge von Asche, ja die schlechte Karikatur eines Phönix in Gestalt sich bekämpfender Herrschaftscliquen. So kommt der antibürgerliche Intellektuelle in die paradoxe Situation, die Ruinen des Bürgertums gegen seine spätbürgerlichen Feinde zu verteidigen. Trotz konsequenter Kritik an der Konkurrenzgesellschaft, die das Gegenteil des Zustandes sei, in dem man ohne Angst verschieden sein könne, spielt Adorno keineswegs die zergangenen bürgerlichen Formen von universaler Bildung und höherer Kultur gegen die nivellierenden Konformitätszwänge der Massengesellschaft aus. Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war (...) ist verdorben bis ins Innerste. Denn während die bürgerlichen Existenzformen verbissen konserviert werden, ist ihre ökonomische Voraussetzung entfallen. Das Private ist vollends ins Privative übergegangen (...). Die Bürger haben ihre Naivität verloren und sind darüber ganz verstockt und böse geworden (S. 34).
Nach dem Strick im Land des Henkers fragen
Als Adorno im März 1951 seine Refle xionen aus dem beschädigten Leben unter dem ingeniösen Titel Minima Moralia im Land des Henkers veröffentlichte, war er sich darüber im klaren, welche Provokation die Lektüre des Großteils der über 150 Aphorismen bedeutete, ja bedeuten sollte. Denn der damals verbreiteten Hoffnung, Schluss mit der deutschen Vergangenheit machen und ohne Trauerarbeit an die kulturellen Traditionen anknüpfen zu können, entzieht er den Boden. Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet diese Kultur eigentlich noch? (S. 64) Wie war es trotz dieses Frontalangriffs gegen den Zeitgeist zu erklären, dass die Minima Moralia über die Jahre zum Bestseller im Nachkriegsdeutschland wurden?
Wenn man den Gründen für diesen zweifachen Erfolg nachgehen will, muss man sich zunächst das kulturelle Klima vergegenwärtigen, in dem das Buch erschienen ist. Es ist die restaurative Phase der Adenauer-Ära. Gerade die Jüngeren wurden sich des Phrasenhaften zunehmend bewusst, über das der Heroismus der Stunde Null hinwegtäuschen sollte. Zugleich begannen die Auseinandersetzungen darüber, wie es nach dieser schuldhaften Vergangenheit der Deutschen geistig und kulturell weitergehen könnte. So wurde Adorno als ein Autor wahrgenommen, der vor den Nazis zu fliehen gezwungen und folglich ein gänzlich unbelasteter Intellektueller war. Ihm fiel die Rolle zu, Repräsentant eines alternativen Denkens zu sein, das es damals neu zu entdecken galt: den oppositionellen Geist einer künstlerischen und philosophischen Avantgarde. Die Radikalität seiner Kritik an den Pathologien eines egozentrischen Individualismus in der spätbürgerlichen Gesellschaft war eine Voraussetzung dafür, dass sich die Nachkriegsgenerationen mit den Errungenschaften der kulturellen Moderne wieder identifizieren konnten. Die Minima Moralia haben wie eine Art paradoxe Intervention gewirkt. Indem sie das Grauen rückhaltlos beim Namen nannten, konnte man sich einen Begriff vom Übel machen, das im Schoße dieser Gesellschaft aufgegangen war, zugleich aber auch die Frage nach den Bedingungen des wahren Lebens stellen: Als Spiegelschrift des Falschen.
Bekannt wie ein bunter Hund
In einem Brief an seinen Freund Siegfried Kracauer vom Sommer 1951 nennt Adorno selbst einige Gründe dafür, warum er mit seinem schwierigen Buch so bekannt wie ein bunter Hund geworden sei. Den Menschen in Deutschland hänge die Heideggerei zum Halse heraus, schrieb er, und es herrsche eine Art Vakuum (...), in dem sich die unhäuslichen Minima Moralia häuslich einrichten können.
Es stimmt, die Aphorismen erteilen nicht nur eine Lektion über das Bornierte der konventionellen Attitüden wie etwa der männlichen Stärke und der weiblichen Schwäche, sie schärfen nicht nur die Einsicht in stereotype Verhaltensmuster, die in den alltäglichen Situationen etwa der Familie, des Wohnens, der Freundschaft, des Schenkens, der Erotik zur schlechten Gewohnheit geworden sind. Vielmehr hat es der Autor mit seinen minutiösen Moralkritiken geschafft, eine Position zu besetzen, die in jener Situation der Erschütterung traditioneller Wertorientierungen vakant war: Er übernahm die Funktion des öffentlichen Intellektuellen, weil er den Mut aufbrachte, die moralischen Ansprüche dieser Gesellschaft mit ihrer Wirklichkeit zu konfrontieren. Aber woher sollte die Melodie kommen, mit der man die Verhältnisse zum Tanzen bringen konnte? Denn im Maße, wie die Totalität des Sittlichen zerrissen war und das bürgerliche Bewusstsein zynisch wurde, haben Maximen einer Magna Moralia nach dem Ethikkodex eines Aristoteles ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Wenn das Ganze das Unwahre ist, wandelt sich Moral zu einer verschwindend kleinen Bezugsgröße. Zugleich muss der Moralphilosoph zum Gesellschaftskritiker werden, der gleichsam letzte Rettungsversuche unternimmt. Diese können keineswegs als eine aussichtslose Wiederbelebung der Moral praktiziert werden. Der Akzent liegt vielmehr auf der Reflexion über die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Unmöglichkeit. Aus diesem Grund gilt Adorno die Frage, wie richtiges Leben im Falschen möglich sei, keineswegs als eine rhetorische, sondern als eine im strengen Sinne soziologische. Mehr noch: Die Aphorismen dürfen in ihrer Mehrzahl als Modellanalysen eines akribisch beobachtenden Zeitdiagnostikers gelesen werden, als mikrologische Einzelfallanalysen, die das verdinglicht Übermächtige der sozialen Verhältnisse und das Fassadenhafte der menschlichen Verhaltensweisen aufdecken.
In der Tat, die Minima Moralia haben den Rang eines Hauptwerks, wie Jürgen Habermas bemerkte, und zwar, so ist hinzuzufügen, eines soziologischen. Dieser Soziologe praktiziert das Handwerk der Gesellschaftskritik freilich mit den Mitteln der Sprachkritik, als die sich jeder Text darbietet. Er ist Schriftsteller. Die Präzision seines sprachlichen Ausdrucks führt Klage darüber, was aus der Kultur und der Sprache im Zeitalter totaler Kommunikation und omnipräsenter Medien geworden sei. Von der literarischen Qualität der Prosa Adornos war schon Thomas Mann fasziniert. Kurz nach der Veröffentlichung der Minima Moralia schrieb er dem Autor: Ich habe tagelang an dem Buch magnetisch festgehangen.
Die Zeitlosigkeit des Gegen-sich-selbst-Denkens
Und was könnte einen Leser unserer Tage an diesem Buch fesseln? Nach wie vor ist es das szenisch Dargestellte, sind es die bildlich entworfenen Skizzen, die den Eindruck erwecken, man sei selbst Teil des Geschehens und am Ende persönlich gemeint. Beispielsweise im Fall einer Scheidung: Professoren brechen nach der Trennung in die Wohnung ihrer Frau ein, um Gegenstände aus dem Schreibtisch zu entwenden, und wohl dotierte Damen denunzieren ihre Männer wegen Steuerhinterziehung. Gewährt die Ehe eine der letzten Möglichkeiten, humane Zellen im inhumanen Allgemeinen zu bilden, so rächt das Allgemeine sich an ihrem Zerfall, indem es des scheinbar Ausgenommenen sich bemächtigt (S. 30).
Aktuell wirkt bis heute Adornos Art, die menschlichen Beziehungen und Konflikte aus einer Innenperspektive zu beobachten, um dann das wie unter der Lupe vergrößerte Scheitern des Individuums auf die Widersprüche zu beziehen, von denen das Leben in einer verdinglichten Welt gezeichnet ist. Gerade dadurch, dass Adorno das Triviale der zwischenmenschlichen Beziehungen ernst nimmt und es zugleich analytisch durchdringt, löst er beim Leser jene Aha-Erlebnisse aus, die für viele aus der Lektüre dieser Miniaturen resultieren. So heißt es an einer der vielen typischen, weil erfahrungsgesättigten Stellen: Anstatt die Frauenfrage zu lösen, hat die männliche Gesellschaft ihr eigens Prinzip so ausgedehnt, daß die Opfer die Frage gar nicht mehr zu fragen vermögen (S. 115).
Durch seine Artistik des Formulierens führt Adorno vor, wie kritische Erkenntnis als wider den Stachel löckendes, kontrapunktisches Denken zu realisieren sei. Kennzeichnend für diese Aphorismen ist, dass sie ein Spannungsfeld von Paradoxien entstehen lassen: Einzig durch die Anerkennung von Ferne im Nächsten wird Fremdheit gemildert: hineingenommen ins Bewußtsein (S. 240). Oder: Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll (S. 206). Die Erkenntnis resultiert aus der kontradiktorischen Argumentationsform. Durch solche Gegensatzbildungen überführen sich die extremen Seiten wechselseitig ihrer jeweiligen Einseitigkeiten. Indem Adorno die zwei Seiten nicht nur der einen, sondern aller im Spiel befindlichen Münzen beleuchtet, entsteht ein geradezu provokativer Bedeutungsüberschuss, auf den der Leser mit Nachdenklichkeit reagieren muss. Er stellt das ihm soeben Aufgegangene erneut in Frage. Entsprechend heißt es bei Adorno: Wahr sind nur die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen (S. 254).
Auch heute noch können wir die Minima Moralia als Texte lesen, die auf ungeahnte Spuren führen, die zum Abenteuer des Weiterdenkens animieren, ein Weiterdenken, das freilich auch die Kritik am prinzipiellen Negativismus der Zeitdiagnose des radikalen Gesellschaftskritikers einschließt. Denn die Aphorismen nehmen inhaltlich auf durchaus spezifische Zeiterfahrungen einer faschistischen und postfaschistischen Epoche Bezug.
Vieles dieser vergangenen Zeiterfahrungen Adornos mag für die Leser unserer Tage noch gegenwärtig sein. Dennoch kommt es bei den Minima Moralia keineswegs in erster Linie auf die Gegenstände und ihre Interpretation an, sondern auf den Modus der Thematisierung. Die Musik wird in dieser Aphorismensammlung zwar auch durch den Ton gemacht, aber weitaus bestimmender ist die Kompositionsweise.
Die Bedeutung der Minima Moralia als Teil einer Hinterlassenschaft, die sich allen Formen bloßer Tradierung und Musealisierung widersetzt, besteht darin, den Leser anzuleiten, der Dissonanzen im eigenen Leben nicht nur innezuwerden, sondern sie auch auszudrücken: ihn zu einem Denken zu ermuntern, das offen genug ist, sich auch gegen sich selbst zu wenden.
Kontakt: Prof. Dr. Stefan Müller-Dohm, Tel.: 798-2932
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