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Leonardo und die Sichtbarmachung der Welt

Eine Bildergeschichte von Prof. Dr. Michael Sukale

(Eine Kurzinformation finden Sie hier)

Leonardo da Vinci (1452 - 1519), nicht nur Maler, Bildhauer und Baumeister, sondern auch Naturforscher, hat geglaubt, daß alle Realität schon sichtbar ist oder zumindest sichtbar gemacht werden kann. Zwar ist dieses philosophische Prinzip nicht zu halten, aber es hat einen der universalsten Geister der Renaissance zu größten Leistungen beflügelt - ihn fähig gemacht, die Realität mit seinen Gedanken unerbittlich zu durchdringen und zeichnerisch festzuhalten.

Platon hat die Welt mit verstopften Sinnen und Gefühlen zu erkennen versucht. Das einzige Instrument, das er zuließ, die Wahrheit zu finden, war der Intellekt und die einzige Methode, die Resultate des Intellektes nach Wissen und Meinen hin zu sortieren, die deduktive Logik. Aristoteles hat die Welt offenen Sinnes zu erkennen versucht und fand daher in den wahrnehmbaren Dingen das, was Platon hinter oder außer ihnen erkannte. Er ließ ein zweites Erkenntnisinstrument gelten, die Wahrnehmung, und er gesellte ihr eine neue Methode zu, die induktive Logik.

Leonardo wollte wie Aristoteles die Welt durch die Wahrnehmung erkennen, aber er engte die Wahrnehmung vornehmlich auf den Sehsinn ein. Für ihn erfand er ein Instrument, nämlich die wissenschaftliche Perspektive, welches ihm erlaubte, die Realität durch Visualisierung zu erfassen; und eine Methode, nämlich das theoriebezogene Experiment, welche ihm erlaubte, der Realität durch den Vergleich von Theorie und sinnlicher Erfahrung Gesetze zuzuordnen. Den Umweg über die Sinne nimmt Leonardo, weil er glaubt, daß alle Wissenschaft mit den Sinnen anfängt, daß also alle Wissenschaft Erfahrungswissenschaft sein muß. Demnach sind für ihn alle Künste Erfahrungskünste, denn sie begründen sich durch die Sinne.

Malerei und Bildhauerei gehören dem Gesichtssinn an. Musik und Dichtkunst gehören dem Gehörsinn an. Unterscheidet man außerdem danach, ob eine Kunst einen (mathematisch formulierbaren) Theoriekern hat oder nicht, dann ergibt sich folgende Kreuzzerlegung:

Die Kunst ist

theoretisch

untheoretisch

auf das Auge bezogen

Malerei

Bildhauerei

auf das Ohr bezogen

Musik

Dichtung


Was ist eine Wissenschaft?

Malerei ist die Wissenschaft des Sehens für Leonardo, aber wie gehen denn Wissenschaften vor sich? Hier sind es drei Dinge, die Leonardo von der Tradition übernimmt, und ein Viertes, das ganz neu ist:

Die Wissenschaft ist immer eine Analyse der systematischen Elemente bis zum Schluß, d.h. die Wissenschaft bemüht sich immer, die Grundbegriffe herauszubekommen, die wir bei unseren Theorien gebrauchen.

Die Grundbegriffe sind rein theoretischer Natur.

Die Wissenschaft geht in ihren Folgerungen immer mit mathematischer Beweisführung vor.

Die Wahrheit der Wissenschaft wird durch das Experiment belegt, nicht durch die Mathematik.

Den dritten Punkt, daß die mathematische Beweisführung bei den Wissenschaften wichtig ist, übernimmt er von Euklid, aber er verbindet ihn sogleich mit dem vierten Punkt: "Keine menschliche Forschung kann man wahre Wissenschaft heißen, wenn sie ihren Weg nicht durch die mathematische Darlegung und Beweisführung hin nimmt. Sagst du, die Wissenschaften, die vom Anfang bis zum Ende im Geist bleiben, hätten Wahrheit, so wird dies nicht zugestanden, sondern verneint aus vielen Gründen, und vornehmlich deshalb, weil bei solchem reingeistigen Abhandeln die Erfahrung (oder das Experiment) nicht vorkommt; ohne dies aber gibt sich kein Ding mit Sicherheit zu erkennen."

Die Sichtbarmachung der Welt

Das philosophische Prinzip Leonardos ist sehr einfach. Leonardo hat offenbar geglaubt, daß das Sehen eine ausgezeichnete Beziehung zur Welt herstellt und daß alle Realität entweder schon sichtbar ist oder sichtbar gemacht werden kann.

Nun ist dieses Prinzip offenbar falsch. Denn wie wir wissen, ist die Realität nur bedingt sichtbar, hörbar, schmeckbar, riechbar und greifbar. Zu großen Teilen ist sie sogar nicht sinnlich. Aber Leonardo meinte, daß die Welt, sofern sie real genannt werden kann, entweder sichtbar ist oder sichtbar gemacht werden kann. In dieser letzteren Bedingung liegt die Versöhnung mit der Falschheit, daß die Welt offenbar nicht voll sichtbar, in großen Gebieten sogar unsichtbar ist. Denn für ihn war es möglich, alles, auch das zunächst Unsichtbare und Unsinnliche, sinnlich und sichtbar zu machen. Mit diesem Prinzip kann man fast alle seine Forschungen erklären. Allerdings ist das eine Einsicht, die nicht ganz selbstverständlich ist.

Die Probleme der Visualisierung

Für seine These mußte Leonardo den konstruktiven Beweis dafür erbringen, daß alles zeichnerisch darstellbar ist, und dabei ergeben sich viele Schwierigkeiten und Einwände. Ein erstes Problem ist, alle Oberflächen der Objekte sichtbar zu machen. Die Natur- und Pflanzenzeichnungen Leonardos sind Oberflächenstudien: Mit größter Genauigkeit bildet er das, was er in der Natur sieht, ab, das heißt, er überträgt es von der dreidimensionalen Wirklichkeit auf die zweidimensionale Fläche. Allerdings verlangt Leonardo vom Maler, daß er in die Ursachen und Gründe der Natur eindringen muß, um die Oberfläche sichtbar machen zu können. Manchmal zeichnet Leonardo Pflanzen in zeitlichen Stadien, um den Augenblick, der sein Hauptinteresse findet, auch in die Dynamik des Wachstums und Verfalles einordnen zu können.

Ein zweites Problem ist, das Innere von Objekten sichtbar zu machen. Dies löst Leonardo mit seiner Anatomie. Leonardo hat sehr viele selbständige Entdeckungen in der menschlichen Anatomie gemacht, so zum Beispiel die Größe und Form der Hirnkammern, die Tatsache, daß sich die Augennerven im sogenannten Chiasma kreuzen, und die genaue Lage der Kiefern- und Stirnhöhlen. Aber sein größtes Verdienst ist die zeichnerische Darstellung seiner Befunde. Seine Notizen beweisen, wie gründlich er sich mit dem Problem beschäftigt hat, dem Betrachter seiner Zeichnungen ein Bild von den Strukturen des Körperinneren zu geben und ihm deutlich zu machen, wo sie sich befinden. Die Prinzipien, die er dafür gebraucht hat, sind für uns zwar plausibel, aber zu seiner Zeit völlig neu. Er rotiert den Körper manchmal nur um wenige Grad, um etwa Arme und Beine plastisch werden zu lassen, so als schwenke eine Kamera langsam um den Körper herum. Um die inneren Organe sichtbar zu machen, stellt er sich den "gläsernen Menschen" vor, durch den man hindurchsehen kann, ohne jedoch seine äußeren Formen aus den Augen zu verlieren. Dazu ist ein Vergleich mit der Anatomie des Andreas Vesalius, die 1543 erschien (übrigens im gleichen Jahr wie "De Revolutionibus" von Kopernikus!), von Interesse: Vesalius, der nicht selbst zeichnete, läßt den Körper als einen lebenden darstellen, der wie eine Zwiebel von außen nach innen geschält wird. Auf diese Weise bleibt die Form der Oberfläche nicht erhalten und der Anblick der zwischen Oberfläche und Skelett liegenden Teile wirkt grotesk, weil der sezierte Körper einerseits in aufrechter Haltung dem Betrachter entgegengestikuliert, als lebte er, aber andererseits nichts menschenähnliches mehr zu besitzen scheint.

Die Visualisierung von Gedankenexperimenten

Die Visualisierung geht auch anders vor und macht Gedanken bzw. Theorien sichtbar. Wenn es wahr ist, daß Leonardo glaubt, die Spekulation müsse der Erfahrung vorauslaufen, und wenn er glaubt, alles könne sichtbar gemacht werden, dann müssen sich in seinem Werk auch dafür Beweise finden, daß er einer Theorie sichtbare Form gibt, noch bevor er sie einem Experiment unterzogen hat. Das würde beweisen, daß der Zeichner nicht nur der Nachahmer der Natur ist, sondern auch Gedanken zeichnerisch realisiert. Tatsächlich läßt sich dies an vielen Beispielen demonstrieren, von denen ich eines herausgreife. Leonardo hatte für den künstlichen Flug das Problem zu lösen, wie er einen durch die Schwereanziehung nach unten fallenden Körper gegen das Gravitationsgesetz nach oben ziehen kann. Seine Schwierigkeiten bestanden darin, herauszubekommen, wie durch Schwingungen eines Flügels ein Gewicht durch die Luft transportiert werden könne, denn er beobachtete Vögel, die ihren Körper durch Flügelschlag nach oben bewegen. Er wollte erkunden, ob er das gleiche, was ein Vogel durch seine natürlichen Flügel kann, durch künstliche Flügel ebenfalls nachvollziehen konnte. Er fertigte daher zwei Zeichnungen an. Zuerst eine prinzipielle Zeichnung, auf welcher er zwei miteinander verbundene Hebel zeigt, an deren zweitem, rechtem ein Gewicht befestigt ist. Senkt sich der erste, linke Hebel mit seinem linken Arm nach rechts unten, so hebt sich der zweite Hebel mit seinem linken Arm, an dem das Gewicht hängt, nach oben. Auf einer weiteren Zeichnung hat er den rechten Hebel zu einem Flügel umgebaut, den er durch ein Gelenk mit dem linken Hebel verbindet. Ein Mann ist bemüht, den linken Arm des linken Hebels nach unten zu drücken. Gelingt ihm dies, so wird er das Gewicht heben können. Daß es sich bei diesen Zeichnungen um die Visualisierung eines Gedankenexperiments handelt, beweist der Text Leonardos, der unter den Zeichnungen steht und der vor allem dadurch hervorsticht, daß Leonardo ein mögliches Resultat des Experimentes als Falsifikation der Theorie wertet: "Wenn du die wirkliche Probe der Flügel sehen willst, mach aus Papier, verstärkt durch ein Netz und durch Rohr einen Flügel von Breite und Länge 20 Ellen, und auf einem Kasten von Gewicht 200 Pfund festgemacht; und betätige, wie oben gezeigt wird, das mit aller Kraft. Und wenn der Kasten mit 200 Pfund sich erhebt, bevor sich der Flügel senkt, fällt die Probe gut aus; aber mach, daß die Kraft heftig sei, und wenn die besagte Wirkung sich nicht einstellt, verlier keine weitere Zeit."

Was ist ein visuelles Argument?

Wir unterscheiden zwei Verwendungsweisen des Wortes "Argument": Einmal meinen wir ein rein sprachliches Gebilde und sagen, bestimmte Folgen von Prämissen und Schlußfolgerungen seien Argumente; zum anderen sagen wir auch, eine Prämisse sei ein Argument für die Schlußfolgerung. In diesem zweiten Sinne kann man auch Bilder als Argumente für bestimmte Schlußfolgerungen betrachten. Ja, eventuell können Bilder Argumente für andere Bilder sein. Wir sind daran gewöhnt, nur Argumente im ersten Wortsinn zuzulassen und halten uns daher beim Argumentieren ganz an das Reden oder Schreiben. Daher entgeht es uns, daß ein konsequenter Visualisierungsprozeß bildliche Argumente im zweiten Sinne möglich macht, weil getreue Abbilder die Wahrheit behaupten. Diese werden aber erst in der italienischen Renaissance durch die Perspektiventheorie möglich. Wenn Leonardo die Welt sichtbar machen kann, so, wie sie ist, oder so, wie sie von einem bestimmten Gesichtspunkt aus sichtbar ist oder wäre, dann kann er behaupten, ein Stück Welt direkt einsehbar und als Argument zugänglich gemacht zu haben.

Fazit

Leonardo hat die Realität mit seinen Gedanken unerbittlich durchdrungen, durch das Experiment und die Wahrnehmung rastlos erforscht und alles: seine Theorien, seine experimentellen Anordnungen und die Resultate seiner Beobachtungen durch sein zeichnerischesKönnen anschaulich gemacht und für die Nachwelt festgehalten:

"Lies mich, Leser, wenn ich dir Freude mache, denn sehr selten kehre ich zu dieser Welt zurück. Denn die Geduld dieses Berufes findet sich bei wenigen, daß sie wieder von neuem ähnliche Dinge erfinden möchten. Und kommt, ihr Menschen, die Wunder zu sehen, die man bei solchen Studien in der Natur entdeckt."

 

Der Autor
Prof. Dr. Michael Sukale, Leiter des Instituts für Philosophie, wurde 1992 an die Universität Oldenburg berufen. Der gebürtige Berliner studierte Geschichte, Psychologie und Soziologie in Freiburg und Mannheim und Philosophie an der Stanford University. Nach einer zehnjährigen Lehr- und Forschungstätigkeit in Princeton, Chicago, Washington, Jerusalem und Paris kehrte er 1980 nach Deutschland zurück und habilitierte sich in Mannheim für Philosophie und Wissenschaftslehre. Bis zu seiner Berufung nach Oldenburg lehrte Sukale außer in Mannheim an den Universitäten Düsseldorf, Konstanz, Genf, Bamberg und Leipzig.

Kontakt: Prof. Dr. Michael Sukale, Tel. 0441/798-3171


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