Presse & Kommunikation
EINBLICKE NR.29 | APRIL 1999 |
FORSCHUNGSMAGAZIN DER CARL VON OSSIETZKY UNIVERSITÄT OLDENBURG
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Inhalt
Die unzähligen Briefe der Brüder Grimm
von Uwe Meves Die weltweit bekannten Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm, hochberühmte Gelehrte und engagierte Bürger, führten mit einem ungemein großen Personenkreis einen außergewöhnlich umfangreichen Briefwechsel, der eine kulturhistorische und wissenschaftsgeschichtliche Quelle ersten Ranges darstellt. Ein 1995 in Oldenburg konstituiertes Herausgeberkollegium, dem Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Fächer aus dem In- und Ausland angehören, bereitet unter der Leitung des Autors dieses Aufsatzes eine kritische Edition dieses Briefwechsels in Einzelbänden vor, die auf ca. 30 Bände angelegt ist.
The Grimm Brother`s innumerable letters
Jacob and Wilhelm Grimm, world-wide renowned collectors of fairy tales and acclaimed scholars a well as citiziens of great committment kept up a remarkably extensive correspondence with a great variety of personages which now constitutes a first-class historical source of both cultural and scholary interest. In 1995 an editorial team of international scholars representing a number of different disciplines and presided by the author of this article was constituted in Oldenburg. The Team is currently preparing a 30-volume critical edition of this correspondence.Jacob und Wilhelm Grimms weltweiter Bekanntheitsgrad ist aufs engste verbunden mit ihrer erstmals 1812 erschienenen Märchensammlung. Die "Kinder- und Hausmärchen" gelten als "die berühmteste, weitestverbreitete und folgenreichste Märchensammlung der Weltliteratur" (Heinz Rölleke). In der Wissenschaftsgeschichte sind ihre Namen in besonderer Weise mit der Entstehung und Konstituierung der Fachdisziplin Deutsche Philologie verknüpft. Jacob Grimms "Deutsche Grammatik" (1819 ff.) - eine Grammatik aller germanischen Sprachen - bildete einen Meilenstein der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Und das von den Brüdern begründete "Deutsche Wörterbuch" sollte sich zu einem Jahrhundertwerk deutscher Sprache entwickeln: der erste Band erschien 1854, abgeschlossen wurde das 33 Bände zählende Werk 1971 mit dem Erscheinen des Quellenverzeichnisses.
Mit ihrer Konzeption historischer Lexikographie legten sie "den Grundstein zu einem Werk, das eine neue Epoche in der jahrhundertelangen Geschichte deutscher Wörterbücher einleitete und die Lexikographie anderer europäischer Sprachen entscheidend beeinflußte" (Alan Kirkness). Ließ die ältere Wissenschaftsgeschichte die Geschichte der Deutschen Philologie mit den "Gründungsvätern" Jacob und Wilhelm beginnen, so nimmt Jacob auch in der neueren, die Komplexität des Wissen- schaftsprozesses entfaltenden Wissen- schaftsgeschichte eine Sonderrolle ein. Jacob Grimm gilt hier eher als ein genialer Außenseiter, der, ohne theoretische Begründung seiner Forschungskonzeption(en), ständig seine wissenschaftlichen Rollen wechselte und sich niemals endgültig entschied, "ob er als Mythologe, Romantiker, Prähistoriker, Sammler, Philologe, Grammatiker oder Lexikograph gelten wollte" (Ulrich Hunger). Er hinterließ ein gewaltiges, geradezu erdrückendes wissenschaftliches Lebenswerk, dessen weit gespannter kulturhistorischer Ansatz das Vorbild der (klassischen) Altertumswissenschaft erkennen läßt. Es umfaßt, nach der heutigen disziplinären Ausdifferenzierung, Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Volkskunde, Kunst- und Rechtsgeschichte, Ur- und Frühgeschichte, Mittelalterlichen Geschichte, Religions- und Editionswissenschaft und umgreift verschiedene Philologien, die Deutsche, Englische und Nordische Philologie wie die Romanische und Mittellateinische, aber auch die Keltische, Slavische, Baltische und Finno-Ugrische Philologie.
"Für ein freies, einiges Vaterland unter einem mächtigen König"
Daß der vom Deutschen Akademischen Austauschdienst seit 1995 an ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für herausragende Arbeiten auf dem Gebiet Germanistische Literatur- und Sprachwissenschaft, Deutsch als Fremdsprache sowie Deutschlandstudien jährlich vergebene Preis nach Jacob und Wilhelm Grimm benannt ist, begründete dessen Präsident Theodor Berchem nicht allein mit der wissenschaftlichen Bedeutung der beiden Brüder, sondern vor allem damit, daß "wissenschaftliche Erkenntnis und gesellschaftliche Verantwortung für die Brüder Grimm in wechselseitigem Zusammenhang" standen. 1837 unterzeichneten Jacob und Wilhelm Grimm zusammen mit fünf weiteren (von 52) Göttinger Professoren eine Protestschrift gegen die Aufhebung des hannoverschen Staatsgrundgesetzes von 1833 durch Ernst August II.
Die sieben Professoren wurden entlassen, Jacob Grimm, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus und der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann zudem des Landes verwiesen, da sie zur Verbreitung der Protestschrift beigetragen haben sollen. Am 19. Mai 1848 wählten die Wahlmänner des Wahlbezirks Essen-Mühlheim den 63jährigen Jacob Grimm als Nachfolger Ernst Moritz Arndts zu ihrem Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung. Sie wählten damit einen "Stern erster Größe" - wie die Kölnische Zeitung am selben Tag formulierte -, einen hochberühmten Gelehrten, einen aufrechten Patrioten und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens seit 1837. In seinem Dankschreiben an den Wahlkommissar bekannte Jacob Grimm seine politische Überzeugung: "Ich bin für ein freies, einiges Vaterland unter einem mächtigen König ...". Viermal ergriff er in der Paulskirche das Wort. Bei der Beratung der Grundrechte des deutschen Volkes beantragte er, dem ersten Artikel des Entwurfs als neuen ersten Artikel voranzustellen: "Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen macht er frei." Der Antrag wurde mit 192 Ja-Stimmen gegen 205 Nein-Stimmen abgelehnt. Noch einmal meldete sich Jacob Grimm bei der Beratung der Grundrechte zu Wort. Als selbstbewußter Bürger stellte er in einer großen, vom Beifall der Linken und des Zentrums begleiteten Rede den Antrag: "Aller rechtliche Unterschiede zwischen Adeligen, Bürgerlichen und Bauern hört auf, und keine Erhebung weder in den Adel noch aus einem niedern in den höheren Adel findet statt." Hatte sich Jacob Grimm 1848 noch "gegen alle republikanischen Gelüste" erklärt, so scheint er sich am Ende seines Lebens radikaleren politischen Vorstellungen geöffnet zu haben. Wenige Jahre vor seinem Tod schrieb der über 70jährige an den Historiker Waitz:
"Wie oft muß einem das traurige Schicksal unsers Vaterlandes in den Sinn kommen und auf das Herz fallen und das Leben verbittern. Es ist an gar keine Rettung zu denken, wenn sie nicht durch große Gefahren und Umwälzungen herbeigeführt wird... Es kann nur durch rücksichtslose Gewalt geholfen werden. Je älter ich werde, desto demokrati scher gesinnt bin ich. Säße ich nochmals in einer Nationalversammlung, ich würde viel mehr mit Uhland, Schoder stimmen, denn die Verfassung in das Geleise der bestehenden Verhältnisse zu zwängen, kann zu keinem Heil führen... In den Wissenschaften ist etwas Unvertilgbares, sie werden nach jedem Stillstand neu und desto kräftiger ausschlagen."
Korrespondenz mit Hunderten von Freunden und Gelehrten
Der zitierte Brief verdeutlicht zugleich, welch wichtige Quelle Briefe für die Forschung darstellen. Das gilt insbesondere für eine Zeit, in der ein beträchtlicher Teil des wissenschaftlichen Meinungsaustauschs und der fachlichen Diskussion in Briefwechseln stattfand. Wie ergiebig die Erschließung der verschiedenen Korrespondentenzirkel für die Frühzeit der Deutschen Philologie ist, erweist die vor kurzem erschienene Habilitationsschrift Lothar Bluhms (Die Brüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie, Hildesheim 1997). Das Grimmsche Lebenswerk insgesamt entstand im engen Arbeitskontakt und Gedankenaustausch mit zahlreichen bedeutenden Gelehrten (wie Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann), mit berühmten Persönlichkeiten des literarischen und öffentlichen Lebens, mit heute mehr oder weniger bekannten Zeitgenossen. Es ist undenkbar ohne den lebhaften und außergewöhnlichen Briefwechsel, den Jacob und Wilhelm Grimm mit Hunderten von Freunden und Gelehrten weit über deutsche Grenzen hinaus führten. Das gewaltige Ausmaß des Grimmschen Briefwechsels - es ist mit mindestens 30.000 Briefen zu rechnen - und der außerordentlich große Korrespondentenkreis wurden erst in den letzten Jahren erschlossen, seit der 1985 an der Humboldt-Universität begonnenen Erarbeitung eines Briefverzeichnisses der Brüder Grimm. Bis zum Jahr 1991 hatte der junge Berliner Germanist Berthold Friemel bereits ca. 11.000 Briefdaten gesammelt, die er 1992 in seiner Dissertation der Forschung zugänglich machte. Auf Antrag von Ludwig Denecke, der Berliner Sprachwissenschaftlerin Ruth Reiher und des Autors förderte die DFG von 1993 bis 1998 die Weiterarbeit einer aus fünf Personen bestehenden Arbeitsgruppe an dem Briefverzeichnis. Aufgrund systematischer Recherchen sind bisher ca. 22.000 Briefe erfaßt worden, deren Originale sich an Standorten in aller Welt, zum Teil auch in Privatbesitz befinden. Von diesen Briefen ist etwa die Hälfte noch unveröffentlicht; darunter fallen auch ca. 3.000 Briefe der Grimms. Der erschlossene Korrespon- dentenkreis hat sich auf über 2.100 Personen erhöht und übertrifft damit die 1983 bekannten Korrespondenten fast um das Vierfache. Schon jetzt ist abzusehen, daß durch die neu aufgefundenen und bisher unveröffentlichten Briefe das heutige Wissen über die Arbeitsweise der Grimms und die Entstehung ihrer Arbeiten, über ihr wissenschaftliches Werk insgesamt und ihre Lebensgeschichte eine enorme Erweiterung erfahren wird. Mit dem Briefverzeichnis, dessen Veröffentlichung für das Jahr 2000/2001 im S. Hirzel-Verlag vorgesehen ist, wird dann auch ein unentbehrliches und hochwillkommenes Hilfsmittel für die im Entstehen begriffene Kritische Ausgabe des Briefwechsels von Jacob und Wilhelm Grimm in Einzelbänden vorliegen. Die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Neuausgabe des Briefwechsels der Brüder Grimm ergibt sich insbesondere aus folgen den Aspekten:
30 WissenschaftlerInnen arbeiten an kritischer Ausgabe
Die 1991 gegründete, maßgeblich von Ludwig Denecke, dem Nestor der Grimm-Forschung, initiierte "Arbeitsgemeinschaft für die Geisteswissenschaft des 19. Jahrhunderts" widmete sich insbesondere der Vorbereitung einer kritischen Ausgabe des Grimm-Briefwechsels. Eine Gesamtausgabe erschien aus finanziellen und per- sonellen Gründen auf absehbare Zeit nicht denkbar. Die Überlegungen zielten folglich auf ein realisierbares Editionsmodell, das die zügige Publikation unbekannter oder unzureichend edierter Briefe und gleichwohl die Entstehung von Editionen mit langfristiger Gültigkeit gewährleisten sollte. Unter den gegebenen Voraussetzungen blieb so nur der Weg, an verschiedenen Orten, wo Kompetenz und Mittel es ermöglichen, Teile der Korrespondenz, jeweils beschränkt auf einzelne Personen, Personengruppen und Sachzusammenhänge, kritisch in Einzelbänden zu edieren. 1994 bat mich die o.g. Arbeitsgemeinschaft, mit den bisher an der projektierten Brief-Ausgabe Beteiligten Kontakt aufzunehmen, um Schritte einer besseren Koordinierung der Arbeit in Gang zu setzen und sie zur Mitarbeit in einem unabhängigen Redaktionskollegium einzuladen. Die positive Resonanz auf meine Initiative führte dann im Mai 1995 in Oldenburg zur Konstituierung eines Herausgeberkollegiums als eines Diskussionsgremiums, das offen ist für alle an der Briefausgabe interessierten Mitarbeiter. Seine Aufgaben sieht es u.a. in dem regelmäßigen Austausch über den Stand der Arbeiten (Werkstattberichte) auf den jährlichen Kolloquien, in der Diskussion und der Schaffung von weitgehend verbindlichen Vereinbarungen (z.B. der Editionsrichtlinien), der Organisierung von gewünschten Hilfestellungen für die Fertigstellung einzelner Editionen (z.B. Korreferenten, Korrekturlesen) oder in Vorschlägen für neue Mitarbeiter. Die Versammlung wählte mich zum Sprecher des Herausgeberkollegiums und Dr. Ingrid Pergande-Kaufmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem von der DFG geförderten Projekt Briefverzeichnis der Brüder Grimm, zur Arbeitssekretärin. Als Sitz des Sekretariats wurde die Arbeitsstelle an der Humboldt-Universität bestimmt, da der dort vorhandene wissenschaftliche Apparat und die in Berlin vorhandenen Möglichkeiten (Grimm-Nachlaß, Grimm-Bibliothek) das förderlichste Umfeld bieten. Nach einem schwierigen Prozeß der endgültigen Festlegung der umfangreichen Editionsrichtlinien standen im Mittelpunkt der Kolloquien in Oldenburg (1995, 1996), Berlin (1997) und Jena (1998) die Werkstattberichte über einzelne Individualbriefwechsel, die u.a. von so renommierten Grimm-Forschern wie Heinz Rölleke (Wuppertal) und Alan Kirkness (Auckland) vorgelegt wurden. 1999 wird die Tagung in den Räumen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen stattfinden und damit in einer Stadt, der im Leben und Werk Jacob und Wilhelm Grimms eine besondere Bedeutung zukommt. Dem Herausgeberkollegium gehören nunmehr über 30 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem In- und Ausland an, vorwiegend aus den Teildisziplinen der Germanistik, aber auch aus der Romanistik und Nordistik, aus der Evangelischen Theologie, Sportwissenschaft und Mathematik. Alle der auf ca. 30 Bände angelegten Briefwechsel-Ausgabe werden im S. Hirzel-Verlag (Stuttgart/Leipzig) erscheinen, der bereits das Grimmsche Deutsche Wörterbuch herausbrachte. Mit der Veröffentlichung des ersten Bandes ist im Jahr 2000 zu rechnen.
Jacob Grimm / Wilhelm Grimm
1785: 4. Januar, Jacob in Hanau geboren
1786: 24. Februar, Wilhelm in Hanau geboren
1791: Umzug der Familie nach Steinau
1798: Zum Schulbesuch nach Kassel
1802: Jacob beginnt Jurastudium in Marburg
1803: Auch Wilhelm studiert Jura in Marburg
1805: Jacob reist mit Savigny nach Paris
1806: Jacob wird Sekretär beim hessischen Kriegskollegium
1808: Jacob wird in Kassel Bibliothekar des Königs von Westfalen
1811: Die ersten Bücher: Jacob Über den altdeutschen Meistergesang; Wilhelm Altdänische Heldenlieder
1812: Gemeinsame Werke: Hildebrandslied und Wessobrunner Gebet, 1. Band der Kinder- und Hausmärchen
1814: Wilhelm wird Bibliothekarssekretär in Kassel
1814/15: Reisen nach Paris, Teilnahme am Wiener Kongreß
1815: 2. Band der Kinder- und Hausmärchen
1816: 1. Band der Deutschen Sagen
1818: 2. Band der Deutschen Sagen
1819: Jacob: 1. Band der Deutschen Gramamatik (Formenlehre) / Ehrendoktorat (phil.) für Jacob und Wilhelm von der Universität Marburg
1822: 3. Band der Kinder- und Hausmärchen
1825: Wilhelm heiratet Dorothea Wild
1826: Jacob: 2. Band der Deutschen Gramatik
1828: Jacob: Deutsche Rechtsaltertümer; Jacob erhält Ehrendoktorat (iur.) der Universität Berlin
1829: Wilhelm: Deutsche Heldensage; Jacob erhält Ehrendoktorat (iur.) der Universität Breslau
1830: Jacob Bibliothekar und ordentlicher Professor, Wilhelm Unter-Bibliothekar in Göttingen
1831: Wilhelm: Ernennung zum außerordentlichen Professor / Jacob: 3. Band der Deutschen Grammatik (Wortbildung)
1834: Jacob: Reinhart Fuchs; Wilhelm: Freidank
1835: Jacob: Deutsche Mythologie, Tacitus:Germania / Wilhelm wird ordentlicher Professor in Göttingen
1836: Wilhelm: Rosengarten
1837: 18. November, Protest der Göttinger Sieben: Jacob und Wilhelm werden des Amtes enthoben, Jacob des Landes verwiesen, zurück nach Kassel
1838: Jacob: Uber seine Entlassung; Lateinische Gedichte des X. und XI. Jahrhunderts; Wilhelm: Rolandslied
1840: Jacob: 1. und 2. Band der Weistümer; Wilhelm: Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede
1841: Jacob und Wilhelm werden zu ordentlichen Mitgliedern der Preußischen Aka-demie der Wissenschaften berufen; Lehrtätigkeit an der Berliner Universität bis 1848/1852
1842: Jacob: 3. Band der Weistümer
1843/44: Jacob reist nach Italien, Dänemark und Schweden
1846: Jacob leitet die erste Germanistenversammlung in Frankfurt/a.M
1848: Jacob Abgeordneter im Parlament in der Frankfurter Paulskirche; Jacob: Geschichte der deutschen Sprache 1854: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1
1859: 16. Dezember, Tod Wilhelm Grimms
1860: Deutsches Wörterbuch, Bd. 2
1862: Deutsches Wörterbuch, Bd. 3
1863: 4. Band der Weistümer; 20. September, Tod Jacob Grimms
Ludwig Uhland an Wilhelm Grimm
Tübingen, 28. November 1839Verehrtester Herr!
Ihren früheren werthvollen Geschenken, haben Sie, in den Gedichten Wernhers vom Niederrhein, ein neues beigefügt, für das ich Ihnen, wie für jene, von Herzen dankbar bin. So belebt sich auch dieses Sprachgebiet mehr und mehr mit Spuren einstmaliger poetischer Regsamkeit.
Wenn ich erwäge, wie das Studium der deutschen Vorzeit, soweit ich zurückdenken kann, so völlig ein andres geworden, was seitdem für Erschließung und Bereinigung der Quellen, für Ergründung der Sprache und für richtige Auffaßung der Alterthümer jeder Art geschehen und fortwährend im Werk ist, so sollte mir ein künftiges Geschlecht, dem die Früchte aller dieser Arbeit schon ausgebreitet vorliegen, als ein sehr begünstigtes erscheinen. Allein es werden dann auch manche Anschauungen verloren seyn, die unsrer Zeit noch zu Gebote stan- den; die alten Bauwerke, wenn sie auch nicht in sich vermürben, weichen doch täglich mehr den Ansprüchen der Gegenwart, und so ist es auch mit Mundarten und Trach- ten, Sagen und Liedern, Sitten und Gebräuchen. Ausserdem aber hat gerade jenes selbständige Arbeiten mit geringeren Mitteln, jenes allmählige Entdecken eines kaum geahnten Reichthums, seinen eigenthümlichen Reitz und ich zweifle nicht, daß Ihnen die frische Lust des ersten brüderlichen Zusammenforschens nicht bloß eine schöne Erinnerung, sondern daß sie der lebendige Keim ist, aus dem Ihnen beiden für die nachfolgenden mühevollen und umfaßenden Leistungen Kraft und Ausdauer zugieng und nachhaltig zuwächst. Zum Behuf einer Arbeit über unsre alten Volkslieder, von denen ich, soweit meine Mittel reichen, eine Sammlung beigeben will, erlaube ich mir die Anfrage: wo sich der ungedruckte Meistergesang über des Brennbergers Fahrt zur Königin von Frankreich befinde, wovon Sie in den deutschen Sagen II, 207 einen Auszug gegeben haben? Ich konnte von diesem Liede, das mir von Belang wäre, sonst nirgends eine Spur auftreiben, während mir von dem andern, aus der Sie S. 211 die zweite Sage mittheilen, verschiedene alte Drucke zugänglich geworden sind. Ihnen und Ihrem verehrten Bruder mit der aufrichtigsten Ergebenheit mich empfehlend
L. Uhland.
Wilhelm Grimm an Ludwig Uhland
Kassel, 3. Dezember 1839Mit vergnügen übersende ich Ihnen, verehrtester herr, den meistergesang von des Brennbergers fahrt nach Frankreich, der dem auszug in unsern sagen zu grund liegt; mein bruder hatte selbst in Dresden davon abschrift genommen, freilich vor langer zeit noch unter der napoleon. herrschaft damals umgab, wie Sie bemerken, diese studien noch die frische und der reiz des ersten beginnens, indessen hat der fortschritt andere vortheile mit sich geführt, auch die beruhigung, daß diese richtung nicht wieder untergehen kann. es ist ein erfreuliches zeichen daß Haupt mit dem Erec schon auf dieser Stufe beginnt; wie viel aber noch vor uns liegt zeigt sich eben darin, daß ein so treffliches gedicht bis dahin unbekannt geblieben ist. daß ich, was Sie indessen gethan haben, namentlich Ihre geistig belebten untersuchungen über Thor, in seinem vollen werthe anerkenne brauch ich nicht zu sagen. Ich freue mich im voraus auf die sammlung von volksliedern umsomehr, da, wie es scheint, Meusebach sich nicht zu einer bearbeitung und herausgabe seiner sammlung entschließen wird.
Wir beide benutzen die uns zugetheilte muße nach kräften. mein bruder arbeitet den ersten band seiner grammatik um, oder vielmehr er liefert ein neues werk, denn in den eilf bis jetzt gedruckten bogen ist keine zeile des früheren geblieben. ein band der weisthümer und ein angelsächsisches gedicht wird in kurzer zeit fertig sein. ich habe eine critische ausgabe der goldenen schmiede mit einer einleitung zum druck bereitet, und sie wird wol zu Ostern erscheinen.
Die vorarbeiten zum deutschen wörterbuch haben guten fortgang, und schon kann ich fast 60 mitarbeiter zählen, die uns bei den auszügen beistand leisten. ich möchte nicht gerne zudringlich sein, aber wenn es Ihnen möglich wäre, für dieses werk, das seiner idee nach doch ein allgemein vaterländisches ist, etwas zu thun, oder in dem kreiß Ihrer bekannten einen und den andern dafür zu gewinnen, so würde ich das dankbar anerkennen. das nähere über die ein- richtung will ich gerne mittheilen.
Indem wir beide, mein bruder und ich, ihrem freundschaftlichen andenken uns empfehlen, verharre ich in
herzlicher verehrung
Wilh. Grimm.
Der Autor
Prof. Dr. Uwe Meves (55), Hochschullehrer für ältere deutsche Sprache und Literatur, studierte Germanistik, Geschichte und Sozialwissenschaften an den Universitäten Marburg, Erlangen-Nürnberg und Zürich. Nach dem ersten Staatsexamen für das höhere Lehramt wurde er 1974 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier, 1976/77 Studienreferendariat, ab 1981 Hoch- schulassistent in Trier. 1987 wurde er an die Universität Oldenburg berufen. 1991/92 erhielt er eine Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Meves veröffentlichte zahlreiche Beiträge über die Literatur der Stauferzeit im sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext, über die Rezeption der altdeutschen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert sowie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik.