Presse & Kommunikation
EINBLICKE NR.28 | OKTOBER 1998 |
FORSCHUNGSMAGAZIN DER CARL VON OSSIETZKY UNIVERSITÄT OLDENBURG
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Inhalt
- Die Oldenburger Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Kurt Tucholsky
- Der Fall Mary Ellen - die Legende über den Beginn des Kinderschutzes
- Religionsunterricht zwischen Bildungsauftrag, Patchworkreligiosität und Glaubensfreiheit
- Braunkohleabbau - eine ökologische Herausforderung
- Die Vermutung von Sendov - ein aktuelles mathematisches Problem
- Cherchez la femme bei Copepoden
- Nachrichten der Universitätsgesellschaft
- Notizen aus der Universität
Die Oldenburger Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Kurt Tucholsky
von Dirk Grathoff und Gerhard Kraiker
Seit 1991 wird an der Universität Oldenburg an der 22bändigen Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Kurt Tucholsky (1890 - 1935) mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gearbeitet. Spätestens 2004 soll der letzte Band beim Rowohlt Verlag erscheinen. Das von Literaturwissenschaftlern, Politologen und Historikern in Szene gesetzte Werk ist ein Folgeprojekt der sechsbändigen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Carl von Ossietzkys (1889 - 1938), die 1994 erschien und ein großes Echo fand.
Noch während unsere Forschungsgruppe mit der Arbeit an der Ossietzky-Edition befaßt war, traten zwei Tucholsky-Forscher mit dem Vorschlag an uns heran, gemeinsam eine kritische und kommentierte Tucholsky-Gesamtausgabe zu erstellen. Antje Bonitz, die das Tucholsky-Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach betreute und ein dreibändiges Werkverzeichnis erstellt hatte, und Michael Hepp, der mit finanzieller Unterstützung der Hamburger Philipp-Reemtsma-Stiftung an einer umfänglichen Biographie über Tucholsky arbeitete (sie erschien 1993 bei Rowohlt, inzwischen liegt von ihm auch eine Rowohlt-Monographie vor). Noch eine Edition, und dazu eine fast des dreifachen Umfangs von der Ossietzkys?
Welche Arbeitskapazität blieb dabei für die weitere Forschung? Die Entscheidung fiel uns nicht leicht, zumal es von Tucholsky im Unterschied zu Ossietz- ky schon umfangreiche Werkveröffentlichungen gab, wenngleich, wie Wissenschaftler und Journalisten der Tucholsky-Stiftung und dem Rowohlt-Verlag immer wieder vorhielten, keine vollständige, kritische und kommentierte. Wir stimmten schließlich zu, und mit Unterstützung des Landes Niedersachsen konnten im August 1991 das Tucholsky-Archiv und die Forschungsstelle eingerichtet werden. Antje Bonitz und Michael Hepp kamen nach Oldenburg und begannen mit den Vorbereitungen für die Gesamtausgabe, die seit 1995 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird und 2003/4 abgeschlossen werden soll. Geplant sind insgesamt 22 Bände, davon 15 mit Texten, 6 mit Briefen und 1 Registerband. Abgeschlossen sind bisher 6 Bände, wobei wir nach bisheriger Erfahrung davon ausgehen können, daß der Zeitaufwand für die einzelnen Bände sich durch die Akkumulation von Wissen und einmal etablierte technische Verfahren allmählich verringert.
Bis zum Beginn unserer Arbeit waren 2160 Texte von Tucholsky veröffentlicht worden, die "Gesamtausgabe" wird in den Bänden 1 bis 15 mehr als 3000 enthalten. In den beiden schon erschienenen Briefbänden 1933/34 und 1935 sind etwa ein Drittel der Briefe Erstveröffentlichungen.
Zu Ossietzkys "Sämtlichen Schriften" hatte nur der Rezensent der FAZ angemerkt, eine Auswahlausgabe hätte es auch getan, vieles erweise sich für heutige Leser doch als recht zeitgebunden. (Von dieser Kritik hat er sich übrigens später persönlich distanziert.) Bei Tucholsky liegt ein entsprechender Einwand angesichts der zehnbändigen «Gesammelten Werke» von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, mit Textergänzungs- und Briefbänden, auf den ersten Blick noch näher. Eine solche Auswahl wäre indessen zwangsläufig an die Bedeutungswahrnehmung der Herausgeber und der Jetztzeit gebunden. Ein so facettenreicher und in den unterschiedlichsten literarischen Genres sich bewegender Autor wie Tucholsky wurde schon zu Lebzeiten und mehr noch nach dem Zweiten Weltkrieg aus ganz verschiedenartigen Leseinteressen heraus wahrgenommen. Wie oft er abgedruckt wurde, wer ihn in welchen Zusammenhängen zitierte oder zu seinem Lieblingsschriftsteller erklärte – das weist bereits auf das breite Spektrum der Lesevorlieben hin. Der in der Form so wohlgefällige Gedichteschreiber, der Erzähler von Liebesgeschichten, der provokante politische Kritiker, der die Reaktion wütend attackierte, aber auch seine Gesinnungsgenossen nicht schonte, der engagierte Pazifist, dessen markante Äußerungen zum Krieg noch heute die Gerichte beschäftigen und Anlaß von Gesetzesinitiativen sind, der Verfasser von witzigen und pointierten Kabarettchansons, der Rezensent ganzer Berge von Büchern mit dem hellsichtigen Blick für Teile der großen Literatur (z.B. Franz Kafka, Gottfried Benn) und dem getrübten Auge für andere (z.B. James Joyce, Robert Musil), der manchmal sarkastische, manchmal verstehende Beobachter bürgerlicher Mentalität und Moral und nicht zuletzt der Briefschreiber, dessen Liebesbriefe "zu den schönsten Liebesbriefen der deutschen Literatur dieser Epoche" (Fritz J. Raddatz) zählen – sie alle haben immer wieder ein eigenes Publikum gefunden und standen zu verschiedenen Zeiten mal mehr, mal weniger im Vordergrund.
Für eine nach derzeitigem Kenntnisstand so vollständige Ausgabe wie nur möglich sprechen zwei weitere Gründe: einmal das wissenschaftliche Interesse, auf das Tucholskys Werk, auch in Frankreich, England und den USA, in den letzten Jahren verstärkt stößt. Wer je über einen Autor geschrieben hat, weiß es zu schätzen, eine Kritische Ausgabe - und dazu noch ausführlich kommentiert - zur Verfügung zu haben. Zum anderen sind die Arbeiten von Ossietzky, Tucholsky u.a. nicht nur hochinteressante Zeitdiagnosen, von denen Hans Mommsen kürzlich (bezogen auf Ossietzky) zu Recht feststellte, daß sie durch die aufwendigen Forschungen der letzten Jahrzehnte in erstaunlicher Weise Bestätigung erfahren haben, sie sind auch selbst relevante Zeitdokumente des Diskurses der Linken in der Weimarer Republik. Würde man etwa die zwei Artikel Tucholskys von 1928, in denen er, verzweifelt über die Politik der SPD, unter Vorbehalten der KPD seine Hilfe anbot, als Ausdruck eines schnell revidierten und peinlichen Kurzschlusses weglassen, wäre damit nicht nur seine politische Biographie auf problematische Weise geglättet, sondern auch ein wichtiges Dokument jenes Diskurses dem Leser vorenthalten. Zweitens gehört in diesen Begründungszusammenhang auch, daß Tucholsky häufig für mehrere Zeitungen gleichzeitig schrieb - und zwar solchen unterschiedlicher politischer Richtung wie z.B. im Jahre 1920 für die linksliberalen Blätter des Mosse Verlages "Berliner Tageblatt", "Berliner Volks-Zeitung" und "Ulk", für die USPD-Organe "Die freie Welt" und "Die Freiheit", für die linkspluralistische "Weltbühne", die Kabarett-Zeitschrift "Schall und Rauch" und für den eher rechtsorientierten "Pieron", eine Agitationszeitschrift für den oberschlesischen Abstimmungskampf. Was er wo schrieb, und wie er oft gleiche Themen affirmativ variierte, läßt sich nur feststellen, wenn dem Leser alle Texte präsentiert werden.
Daß Tucholsky bemerkenswert unterschiedliche Sichtweisen der Wirklichkeit produzierte, Augenblicksimpulsen bis an die Grenze der Prinzipienverletzung nachgab, war ihm selbst bewußt. Seine 5 PS, d.h. fünf Pseudonyme – wobei er bezeichnenderweise neben Theobald Tiger, Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser auch Kurt Tucholsky als ein solches definierte – sind von ihm zwar pragmatisch begründet worden, weil Publikationsorgane in der gleichen Nummer ungern mehrere Artikel eines Verfassers brachten. Zugleich versteckte sich Tucholsky jedoch als Autor hinter den gewählten Pseudonymen, wie sich andere moderne Schriftsteller hinter ihren Erzählern verbergen, um aus unterschiedlichen Tonlagen heraus kritisch-ironische Spiele inszenieren zu können. Da er diesem Bedürfnis oft zeitgleich, manchmal an einem oder innerhalb weniger Tage nachgab, wäre eine Anordnung des Werkes nach Genres statt in chronologischer Folge, die wir gewählt haben, für die Rezeption erschwerend gewesen. Mehr aber noch spricht gegen eine Genregliederung, daß Tucholsky die Gattungen häufig vermischte, so daß bei der Zuordnung ein Moment von Willkür unvermeidbar gewesen wäre.
Getrennt sind nur Texte und Briefe – und selbst diese einfache Trennung bereitet wiederholt Probleme, wenn etwa Briefe in Gedichtform gefaßt oder Gedichte integraler Bestandteil von Briefen oder andere literarische Texte Briefen als Beilage zugefügt sind. Bei manchen Schriftstellern sind die Briefe mehr oder weniger informatives Beiwerk zu ihren Texten, bei anderen sind sie eher Teil der literarischen Produktion. Letzteres gilt für Tucholsky. Er hat dies zwar nicht wie andere intendiert, wer aber Einblick in die schon veröffentlichten Briefbände nimmt, wird diese Einschätzung zumindest für große Teile nachvollziehen können. Von 1933 bis zu seinem Tod im Dezember 1935 waren Briefe die einzig verbliebene literarische Äußerungsform Tucholskys. Die Niederlage, als die er die Etablierung nationalsozialistischer Herrschaft für sich und seine Mitstreiter für Frieden und die demokratische Republik empfand, hatte ihn, noch bevor der Kampf ganz entschieden war, für jede andere Form demotiviert. Auch der Mitarbeit in Exilzeitschriften und -verlagen, zu der ihn Freunde immer wieder drängten, verweigerte er sich beharrlich mit dem Argument, da werde der Kampf nur mit Ideen und Mitteln fortgesetzt, die sich schon als vergeblich erwiesen hätten. Umso intensiver ist die Realpolitik und seine Suche nach neuen politischen Grundlagen Thema in den Briefen an den Freund Walter Hasenclever und vor allem an die in Zürich wohnende Freundin Hedwig Müller (gen. Nuuna), der er in den Briefbeilagen unter dem Kennzeichen Qu (= Quatsch)Tagebücher ganze Abhandlungen schickte. Diese sind dank Hedwig Müllers Vorsorge erhalten geblieben, andere Briefe, wie z.B. die an seinen väterlichen Freund Siegfried Jacobsohn, den Begründer und bis 1926 Herausgeber der "Weltbühne", leider nicht.
Welches waren und sind die wichtigsten Arbeitsschritte einer solchen Edition? Zunächst galt es, in allen in Frage kommenden Zeitungen und Zeitschriften nach weiteren Artikeln und Nachdrucken zu Lebzeiten zu suchen, eine zeitaufwendige Arbeit, die zudem nie an den Punkt der Gewißheit gelangt, sie endgültig abschließen zu können. Weitere Schritte sind: die Sicherung der Authentizität der Autorschaft (manche der bisherigen Zuschreibungen erwiesen sich als nicht zuverlässig und werden jetzt als "ungesicherte Texte" ausgewiesen); Datierungen, die bei den unveröffentlichten Manuskripten und bei vielen Briefen Schwierigkeiten bereiten; Festhalten der Varianten in verschiedenen von Tucholsky autorisierten Drucken; Fahnenkorrekturen von Texten und Briefen verbunden mit den zurückhaltend gehandhabten Emendationen; und schließlich die Kommentierung, der aufwendigste Teil der Editionsarbeiten.
Der Kommentar in den Textbänden soll nicht mehr als ein Drittel des Gesamtumfangs ausmachen. Bei den Briefbänden ist das Verhältnis ein anderes, sie haben wesentlich mehr Kommentaranteil, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, daß Teile der Gegenbriefe darin wiedergegeben werden. Aufgabe des Kommentars soll es primär sein, den Lesern die Text- oder Briefteile zu erschließen, die ohne Erklärung der zeitgeschichtlichen Bezüge nicht unmittelbar zugänglich wären. Dabei setzen wir orientierte Leser voraus, d.h. wir verzichten in der Regel auf die Wiedergabe dessen, was in allgemeinen Lexika, im Fremdwörterduden oder dergleichen nachzuschlagen ist und was als allgemeine Geschichtskenntnis vorausgesetzt werden kann. Die Kommentare beziehen ihr Wissen neben speziellen Nachschlagewerken vor allem aus den von Tucholsky selbst benutzten Zeitungen (die Mediothek der Oldenburger Universitätsbibliothek hat dafür einen hervorragenden Bestand). So können die Kommentarbearbeiter/innen nicht nur seinen Informationsstand im jeweiligen Fall sich annähernd rekonstruieren, sie erkennen auf diese Weise auch am ehesten Anspielungen auf Vorgänge, Ereignisse, Äußerungen sowie die unausgesprochenen Anlehnungen bzw. Gegenpositionen Tucholskys zu den Zeitungen. Die wechselseitige Bezugnahme der Zeitungen und Zeitschriften aufeinander, positiv wie negativ, war in der Weimarer Republik sehr viel ausgeprägter als heute; vor allem in den zahlreichen, in die Richtungskämpfe der Republik involvierten Berliner Publikationsorganen waren heftigste Fehden an der Tagesordnung; Tucholsky, über all die Jahre Zielscheibe rechter und zeitweilig kommunistischer Polemik, war vielfach dabei.
Eine zweite Funktion des Kommentars kann man als Service für die Leser zusammenfassen: Quellenerschließung der Zitate und der literarischen Anspielungen (soweit wir sie erkennen), Informationen über Personen und Personenbezüge (über das Personenregister hinaus), Institutionen und Ereignisse, Übersetzungen, Querverweise auf andere Text- bzw. Briefstellen, Hinweise auf spezielle Literatur u.ä. Was wir nicht als Aufgabe des Kommentars ansehen, sind eigene Deutungen des literarischen Werks und Beurteilungen der politischen Äußerungen; eine Werkausgabe kann nur die besten Voraussetzungen für Interpreten und Kritiker schaffen, die Analyse muß an anderer Stelle stattfinden. Die Forschungsstelle hat sich daran in zahlreichen Publikationen über Ossietzky, Tucholsky und deren Umfeld intensiv beteiligt.
Anmerkung. Eine ärgerliche Erfahrung der Mitglieder der For- schungsstelle sollte in diesem Überblick nicht fehlen: Während die Belastung in der eigentlichen Editionsarbeit durch Routinegewinn allmählich abgebaut werden, nahmen die Schwierigkeiten bei der Projektorganisation erheblich zu. Ursache ist die inzwischen als kontraproduktiv erwiesene gesetzliche Bestimmung, Mitarbeiter/innen nicht über fünf Jahre beschäftigen zu dürfen, zumal, wenn sie rigide gehandhabt wird. Dies ist für ein Projekt, das schon aus Gründen einer von außen vorgegebenen Zeitökonomie auf spezielle Kompetenzen der Mitarbeiter/innen angewiesen ist, sehr bedrohlich. Welcher Arbeitsaufwand betrieben werden muß, wie viele Umwege es erfordert, diese Hürde in jedem einzelnen Fall einer Vertragsverlängerung zu überwinden, ist an dieser Stelle nicht zu schildern. Hier läge jedenfalls eine verdienstvolle Aufgabe für alle jene, die so vollmundig die größere Effektivität der Forschung von den Universitäten verlangen. Ohne die Unterstützung des Präsidenten der Universität und die Bereitschaft der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sich unbürokratisch auf neue Wege einzulassen, wären wir an diesem Problem gescheitert.
Zu guter Letzt sei eine positive Anmerkung nachgetragen: Die erfolgreiche Etablierung der Ossietzky- und Tucholsky-Archive mit ihren Forschungsstellen und den abgeschlossenen bzw. voranschreitenden Gesamtausgaben hat wesentlich dazu beigetragen, daß jetzt der Nachlaß von Hannah Arendt der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (kopiert) in einem Archiv deponiert und eine Forschungsstelle für die Herausgabe einer Hannah-Arendt-Ausgabe eingerichtet wird. Diese drei Schwerpunkte: Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky und Hannah Arendt sollen zu einem interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Kultur der Weimarer Republik und des Exils zusammengeführt werden. Zusammen mit dem Studiengang der "Jüdischen Studien" ergibt sich dadurch ein international wichtiger Schwerpunkt der deutschen Geistes- und Kulturwissenschaften.
Bisher erschienene Bände der Tucholsky-Gesamtausgabe
Bd. 1: Texte 1907-13: hg, von Bärbel Boldt, Dirk Grathoff, Michael HeppBd. 4: Texte 1920: hg. von Bärbel Boldt, Gisela Enzmann-Kraiker, Christian Jäger
Bd. 9: Texte 1927: hg. von Gisela Enzmann-Kraiker, Ute Maack, Renke Siems
Bd. 14: Texte 1931: hg. von Sabina Becker
Bd. 20: Briefe 1933-34: hg. von Antje Bonitz, Gustav Huonker
Bd. 21: Briefe 1935: hg. von Antje Bonitz, Gustav Huonker
Kurt Tucholsky (1890-1935)
Gruß nach vorn
Lieber Leser 1985 -!Durch irgendeinen Zufall kramst du auf der Bibliothek in dieser Zeitschrift, findest die Jahreszahl, die du eben erst geschrieben hast – wenn sie bis dahin nicht einfach 85 heißt –, stutzt und liest. Guten Tag.
Ich bin sehr befangen: du hast einen Anzug an, dessen Mode von meinem sehr absticht, auch dein Gehirn trägst du ganz anders ... Ich setze dreimal an: jedes Mal mit einem andern Thema, man muß doch in Berührung kommen ... nicht wahr? Jedesmal muß ichs wieder aufgeben – wir verstehen einander gar nicht. Ich bin wohl zu klein; meine Zeit steht mir bis zum Halse, kaum gucke ich mit dem Kopf ein bißchen über den Zeitpegel ... da, ich wußte es: du lächelst mich aus.
Alles an mir erscheint dir altmodisch: meine Art, zu schreiben, und meine Grammatik und meine Haltung ... ah, klopf mir nicht auf die Schulter, das habe ich nicht gern. Vergeblich will ich dir sagen, wie wir es gehabt haben, und wie es gewesen ist, neumodisch Gesalbtes und altmodisch Vergessenes ... Nichts. Du lächelst, ohnmächtig hallt meine Stimme aus der Vergangenheit, und du weißt Alles besser. Soll ich dir erzählen, was die Leute in meinem Zeitdorf bewegt? Genf? Shaw-Premiere? Thomas Mann? Das Fernsehen? Eine Stahlinsel im Ozean als Halteplatz für die Flugzeuge? Du bläst auf Alles, und der Staub fliegt meterhoch, du kannst gar nichts erkennen vor lauter Staub.
Schmeicheleien? Leider nicht. Selbstverständlich habt Ihr die Frage: "Völkerbund oder Pan-Europa" nicht gelöst; Fragen werden von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen. Selbstverständlich habt Ihr fürs tägliche Leben dreihundert wichtige Maschinen mehr als wir, und im übrigen seid Ihr genau so dumm, genau so klug, genauso modern wie wir. Was ist von uns geblieben? Wühle nicht in deinem Gedächtnis nach, was du grade in der Schule gelernt hast. Geblieben ist, was zufällig blieb; was so neutral war, daß es herüberkam; was wirklich groß ist (davon ungefähr die Hälfte, und um die kümmert sich kein Mensch – nur am Sonntagvormittag ein bißchen, im Museum): wir verstehen uns wohl nicht recht. Es ist das Selbe, wie wenn ich heute mit einem Mann aus dem Dreißigjährigen Krieg reden sollte. "Ja, gehts gut? Bei der Belagerung Magdeburgs hats wohl sehr gezogen ...?", und was man so sagt.
Ich kann nicht einmal über die Köpfe meiner Zeitgenossen hinweg ein erhabenes Gespräch mit dir führen, so nach der Melodie: wir Beide verstehen uns schon, denn du bist ein Fortgeschrittener, gleich mir. Ach, mein Lieber: auch du bist ein Zeitgenosse. Höchstens, wenn ich "Bismarck" sage und du dich erst erinnern mußt, wer das war, grinse ich heute schon vor mich hin: du kannst dir gar nicht denken, wie stolz die Leute um mich herum auf dessen Unsterblichkeit sind ... Na, lassen wir das. Außerdem wirst du jetzt frühstücken gehen wollen.
Guten Tag. Das Papier ist schon ganz gelb geworden, gelb wie die Zähne unsrer Landrichter, da, jetzt zerbröckelt dir das Blatt unter den Fingern ... nun, es ist auch schon so alt. Geh mit Gott, oder wie Ihr das Ding dann nennt. Wir haben uns wohl nicht allzuviel mitzuteilen, wir Mittelmäßigen. Wir sind zerlebt, unser Inhalt ist mit uns dahin gegangen. Die Form war Alles.
Ja, die Hand will ich dir noch geben. Wegen Anstand. Und jetzt gehst du. Aber das rufe ich dir noch nach|: Besser seid Ihr auch nicht als wir und die Vorigen. Aber keine Spur, aber gar keine–
Unter dem Pseudonym Kaspar Hauser in der Weltbühne vom 6.4.1926
Die Autoren
Prof. Dr. Dirk Grathoff (52), Studium der Germanistik und Philosophie in Berlin (FU) und der Indiana University (USA). Promotion 1972, Habilitation 1980. Dozent in Gießen (1973–1980), Gastprofessuren in Freiburg und München, Professor für deutsche Literaturwissenschaft in Oldenburg seit 1985. Forschungsschwerpunkte Klassik/Romantik – Heinrich von Kleist; Kultur der Weimarer Republik, Gegenwartsliteratur, Begründer und Organisator der "Literatour Nord".
Prof. Dr. Gerhard Kraiker (61), Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Psychoanalyse an den Universitäten Saarbrücken, Frankfurt/M., Marburg, Gießen. Assistent und Dozent für Politikwissenschaft in Gießen. Seit 1974 in Oldenburg Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Gesellschafts- und Staatstheorien. Forschungsschwerpunkte: Politische Ideengeschichte, Entstehung der Bundesrepublik, Politische Kultur der Weimarer Republik.