Presse & Kommunikation
EINBLICKE NR.26 | OKTOBER 1997 |
FORSCHUNGSMAGAZIN DER CARL VON OSSIETZKY UNIVERSITÄT OLDENBURG
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Inhalt
- Kinderlosigkeit und Künstliche Befruchtung
- Recyclebares Mikrochip-Design
- Wandernde Gene
- Ökologische Unternehmensführung oder: Wie werden die Bösen die Guten?
- Quellenbibliographie setzt neue Maßstäbe zur Rhetorikforschung
- Die Tradition des Niederländischen in Ostfriesland
- Nachrichten der Universitätsgesellschaft
- Notizen aus der Universität
- Summaries
Wandernde Gene
von Johann de Vries und Wilfried Wackernagel
Bekanntermaßen werden Gene von Eltern an die Nachkommen weitergegeben, also von Generation zu Generation (vertikaler Gentransfer). Neuere Forschungen zeigen jedoch auch Fälle von Gentransfer zwischen Individuen einer Generation (horizontaler Gentransfer), und dies sogar auch zwischen sehr verschiedenen Organismen. Ebenso wurden sich ausbreitende "springende Gene" beobachtet - Erbmaterial wandert durch die Reiche der Lebewesen.
Gene sind seit der Debatte um gentechnisch veränderte Lebensmittel in aller Munde. Im wörtlichen Sinne sind sie es schon immer gewesen: seit jeher nehmen wir beim Verzehr von Gemüse, Fleisch, Joghurt usw. die Gene von Lebewesen, also von Pflanzen, Tieren, Pilzen und Bakterien, zu uns. Lebewesen bestehen aus Zellen, deren Zellkerne die Gene beherbergen, die das Leben eines jeden Organismus möglich machen. Sie verleihen ihm seine typischen und individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten. Im einzelnen sorgen sie für den Ablauf der Entwicklung des Organismus, für den Stoffwechsel, der aus Nahrungsmitteln körpereigene Substanzen aufbaut und Energie liefert, und sie steuern auch Verhaltensweisen. Die Gesamtheit der Gene eines Organismus wird als sein Genom bezeichnet. Es kann, wie bei Bakterien, aus einem einzigen Chromosom mit ca. 5.000 Genen bestehen. Bei den höheren Organismen dagegen setzt sich das Genom aus mehreren Chromosomen zusammen. Die Anzahl der Gene wird beim Menschen auf etwa 100.000 geschätzt. Das Genom wird mit größter Genauigkeit immer wieder an die Nachkommen vererbt (vertikaler Gentransfer).
Der Schlüssel dazu, wie Gene z.B. die Entwicklung eines Menschen aus einer befruchteten Eizelle zur ausgewachsenen Person steuern, liegt in der Abfolge der vier Genbausteine (den Basen Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin) in der Erbsubstanz (DNA, Desoxyribonukleinsäure). Aufgrund zahlreicher Analysen der Basenabfolge von Genen wurde inzwischen deutlich, daß bei entwicklungsgeschichtlich nah verwandten Organismen, z.B. Mensch und Maus, die Sequenzähnlichkeit von Genen mit gleicher Funktion relativ groß ist. Bei sehr entfernt verwandten Organismen ist die Ähnlichkeit sehr gering oder nicht erkennbar.
Nun haben die Sequenzanalysen aber in einigen Fällen zu höchst überraschenden Ergebnissen geführt. Zum Beispiel fand man, daß ein Gen einer Pflanze auch in dem Darmbakterium Escherichia coli vorkommt. Wie ist das Gen aus einem Chromosom der Pflanze in das Chromosom des Bakteriums gelangt? Beide Organismen haben keine gemeinsamen Vorfahren in der Evolution, von denen sie das Gen geerbt haben könnten. Also muß hier eine Genwanderung stattgefunden haben. Wie ist das vorstellbar? Ein anderer Befund, der schon vor Jahren erhoben und inzwischen in vielen Einzelheiten belegt worden ist, ist das Phänomen der "springenden Gene" oder Transposons. Diese genetischen Elemente wechseln gelegentlich ihren Ort in den Chromosomen eines Organismus, d.h. sie transponieren. Solche Transposons kommen, wie man inzwischen weiß, bei allen Arten von Lebewesen vor, auch beim Menschen. Sie können sich mit zusätzlichen Genen versehen und diese beim Transponieren mitnehmen. Aus diesem und anderen Beispielen ergibt sich das Bild, daß sich in der Natur offenbar mobile Erbanlagen und Wanderwege für Gene entwickelt haben. Nutzt die Natur diese auch heute noch, indem Organismen Gene in ihr Genom aufnehmen? In der Gentechnik ist die Verpflanzung von Genen aus einem Organismus in einen anderen bekanntlich das methodische Herzstück. Tatsächlich können wir aber auch in der Natur die Wanderung von Genen heute in einer Reihe von Fällen verfolgen, und zwar sowohl zwischen Organismen der gleichen Art wie auch zwischen weniger verwandten und sogar zwischen nicht verwandten (wie Bakterium und Pflanze).
Genwanderung bei Fruchtfliegen
Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster ist seit den 20er Jah-ren dieses Jahrhunderts eines der bedeutendsten genetischen Forschungsobjekte. Fruchtfliegen aus vielen Regionen der Erde wurden seit jenen Jahren immer wieder gefangen und in die Stammsammlungen von Forschungsinstituten aufgenommen und fortgezüchtet. Vor einigen Jahren entdeckte man bei neu gefangenen Fruchtfliegen ein Transposon, das sogenannte P-Element. Zu einer richtigen Sensation wurde es, als sich herausstellte, daß die Fliegen aus den alten Sammlungen fast nie das Transposon enthielten, während neu gefangene Tiere, von welchem Kontinent auch immer, dieses Transposon sehr häufig aufwiesen. Eine Zeitanalyse zeigte, daß Ende der 60er Jahre eine weltweite Invasion der Bestände von Drosophila melanogaster durch das P-Element eingesetzt hatte. Die epidemieartige Verbreitung erfolgt vermutlich bei der Befruchtung. Besitzt ein Kreuzungspartner das Transposon, dann springt es in den Nachkommen auch auf die transposonfreien Chromosomen über, d.h. die Nachkommen geben das Element dann mit 100%iger Chance wiederum an ihre Nachkommen weiter. Der Ursprung des Elementes ist noch unklar. Ein weiterer, nicht weniger überraschender Wanderweg dieses Elementes wurde inzwischen offenbar. Während die meisten der verwandten Fruchtfliegenarten, die sich nicht mit D. melanogaster paaren, erwartungsgemäß das P-Element nicht aufweisen, hat man inzwischen zwei fernere Verwandte gefunden (D. willistoni und D. obscura), die häufig das P-Element tragen. Wie ist es in diese Arten gekommen oder aus diesen in D. melanogaster? Möglicherweise wurde das Element durch einen Parasiten übertragen, z.B. eine Milbe, die alle drei Arten von Drosophila befällt. Das könnte bedeuten, daß mit der Übertragung von Körpersäften oder Zellen beim Milbenstich auch Gene übertragen werden. Ein solcher Genweg wäre allgemein durch stechende und saugende Insekten denkbar. Die Übertragung von Krankheitserregern auf diesem Weg ist schon lange bekannt.
Ein Weg für Bakteriengene in Pflanzenzellen
Bestimmte Bakterien verfügen über die erstaunliche Fähigkeit, Gene in die Zellen höherer Organismen einzuschleusen. Sehr genau ist der Vorgang bei Agrobacterium tumefaciens untersucht. Wenn ein solches Bakterium eine Pflanze infiziert, veranlaßt es die Bildung eines DNA-Kanals, durch den Erbmaterial der Bakterien transportiert wird. Dieses gelangt schließlich in den Kern der Pflanzenzelle. Die bakteriellen Gene bringen nun die Pflanzenzelle dazu, sich häufiger zu teilen (Tumorbildung) und bestimmte Nährstoffe zu produzieren und abzugeben. Von diesen leben die Bakterien als Schmarotzer. Agrobakterien können auf diese Weise in zahlreichen, sehr unterschiedlichen Pflanzenarten parasitieren. Wir haben hier einen natürlichen Fall von aktivem horizontalen Gentransfer aus Bakterien in höhere Organismen vor uns. Dieser Prozeß wird seit einigen Jahren in der Gentechnik genutzt. Die DNA der Agrobakterien kann gentechnisch verändert werden, um gezielt bestimmte Gene in den Zellkern von Pflanzen einzubringen. Viele der gentechnisch erzeugten neuen Sorten von Kulturpflanzen (z.B. bestimmte Sorten von Raps, Kartoffeln, Mais, Nelken) sind so hergestellt worden.
Fremdgene finden sich in vielen Organismen
Gene, die nicht springen können und die offenbar auch nicht Teil eines organisierten Gentransferprozesses wie bei Agrobakterien sind, wechseln dennoch gelegentlich den Organismus. Bei der Analyse von Erbanlagen kommen immer neue Belegfälle hierfür zutage und machen aus der nüchternen Sequenzanalyse eine höchst spannende Forschung. Bei diesen Untersuchungen helfen auch die Genom-Projekte, bei denen die Gesamtheit der Gene von etlichen Bakterien, Pilzen, Pflanzen und auch vom Menschen analysiert wird. Hierbei zeigt sich, daß Gene gelegentlich von Pflanzen auf Bakterien übergegangen sind und umgekehrt, aber auch von Bakterien auf Tiere oder von Pilzen auf Pflanzen.Gelangt ein fremdes Gen in eine Zelle, kann es entweder als Zusatz die Zahl der Gene erhöhen (Addition) oder vorhandene Gene ersetzen (Substitution). Für die genetische Weiterentwicklung des Organismus können beide Möglichkeiten förderlich sein: Er erhält Erbanlagen, die ihn vielleicht mit neuen Eigenschaften ausstatten. Die Übertragungswege sind bisher in keinem Fall bekannt. Allerdings lassen einige Fälle vermuten, daß bei engem Zusammenleben der Organismen gelegentlich ein horizontaler Gentransfer eintritt, z.B. zwischen Bakterien und Pilzen im Pansen von Rindern oder zwischen Bakterien und Pflanzenzellen, wenn die Bakterien im Innern von Pflanzen als Symbionten leben.
Genübertragungen bei Bakterien
Bakterien tauschen, das wurde schon vor ca. 50 Jahren entdeckt, ebenfalls untereinander Gene horizontal aus. Anders als bei den übrigen Lebewesen ist die Erforschung dieser natürlichen Transferprozesse bei Bakterien schon recht weit vorgestoßen. Danach werden Gene, ähnlich wie zwischen Agrobakterien und Pflanzen, im Verlauf von Zell-zu-Zell-Kontakten übertragen. Oder aber die Bakterien nehmen das entlassene Erbmaterial aus abgestorbenen Zellen aktiv auf und integrieren es in ihr Genom. Schließlich können auch manche Viren Gene von einer Zelle auf eine andere übertragen. Im Reagenzglas lassen sich diese Prozesse unter geeigneten Bedingungen gut nachvollziehen. Im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes haben wir gezeigt, daß auch in der Umwelt Gene in Form nackter DNA z.B. zwischen Bodenbakterien übertragen werden können. Selbst sehr unterschiedliche Bakterien können Erbmaterial austauschen.Dies führt zu einem unerwarteten Paradoxon: manche Bakterienarten sind seit mehr als 100 Millionen Jahren vorhanden und haben sich trotz der Möglichkeit des Genaustausches offenbar kaum verändert. Eine Untersuchung ihrer Genome zeigt, daß diese sich wie ein Mosaik aus Genen unterschiedlicher Herkunft zusammensetzen. Es muß daher vermutet werden, daß die Aneignung von Genen für einen Organismus ein erfolgreicher Weg ist, sich z.B. an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, ohne dabei wichtige Grundeigenschaften zu verlieren. Beispiele dafür erhalten wir heute aus vielen Bereichen der Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Krankheitserregende Bakterien passen sich durch "Erwerb" von Antibiotikumsresistenzgenen an den Einsatz der Antibiotika in der Therapie an. Dies ist praktisch unvermeidbar, da die natürlichen Gentransferprozesse bislang nicht unterbindbar sind. Es wurde nachgewiesen, daß die Verbreitung der Unempfindlichkeit gegen Penicillin, z.B. unter den Erregern von Tripper (Neisseria gonorrhoeae) oder Gehirnhautentzündung (Neisseria meningitidis), und sogar auch zwischen diesen beiden, durch Weitergabe der Resistenzgene erfolgt. Die ungezielte Verwendung von Antibiotika erzeugt den Selektionsdruck für die beschleunigte Wanderung der Gene.
Gentechnik und Gentransfer
Die natürlichen Genwanderungen werden häufig als eines der Risiken gesehen, die mit der Ausbringung von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt verbunden sind. Wenn Pflanzen, Pilze und Bakterien ihr Erbmaterial nämlich in die Umwelt abgeben würden, könnte die rekombinante DNA unerwünscht in andere Organismen gelangen. Unsere eigenen Untersuchungen im Rahmen der Sicherheitsforschung haben gezeigt, daß DNA von Bakterien und Pflanzen tatsächlich in die Umwelt abgegeben wird, dort überdauern und auch wieder in Bakterien aufgenommen werden kann. Die so nachgewiesenen Transferwege sind vermutlich schon so lange wirksam, wie es Organismen gibt. Auf diese Weise konnten in Milliarden Jahren durch Gentransfer schon alle möglichen Gene "ausprobiert" werden. Gentechnische DNA stellt hier nichts grundsätzlich Neues dar. Hinzu kommt, wie eingangs festgestellt, daß alle Tiere einschließlich des Menschen täglich Gene z.B. mit der Nahrung ohne Schaden aufnehmen. Selbst wenn einmal fremdes Erbmaterial in Gewebezellen eindringen würde, dann wäre, weil der Weg in die Keimbahnzellen versperrt ist, eine Vererbung nicht möglich. Im Sinne der Arbeitssicherheit liegt jedoch eine andere Situation vor, wenn Forscher z.B. mit konzentrierten Präparaten menschlicher Krebsgene arbeiten. Falls solche in Körperzellen eindringen, wäre es nicht auszuschließen, daß ein Einbau der DNA in ein Zellchromosom stattfindet und sich daraus eventuell ein Tumor entwickeln könnte. Obwohl ein solcher Gentransfer in Tierversuchen nicht nachgewiesen werden konnte, wurde kürzlich von der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit (Berlin) hierzu vorsorglich einer Stellungnahme abgegeben. Nach ihr ist durch geeignete Maßnahmen bei der Laborarbeit die Aufnahme von solcher DNA in den Körper (z.B. durch Hautkontakt, als Folge von Verletzungen oder durch Einatmen) zu verhindern.
Schlußfolgerung
Die horizontale Wanderung von Erbmaterial, zusätzlich zur klassischen elterlichen Vererbung, ist offenbar ein wichtiger Bestandteil des Lebens. Das erstaunliche Nebeneinander von hoher Artenkonstanz einerseits und Plastizität der Genome andererseits ist ein Phänomen voller offener Fragen. Tatsächlich ist in allen Genomen noch Platz für neue Gene. Nur 5 % der menschlichen Erbsubstanz sind mit Genen besetzt, bei Pflanzen oft weniger als 0,5 % und bei Bakterien ca. 95 %. Der Genfluß zwischen den Lebewesen ist wegen der Möglichkeit der Aneignung neuer Gene vermutlich ein wichtiger Faktor für die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen und damit für die Evolution. Die zugrundeliegenden Mechanismen und die Auswirkungen der einzelnen Prozesse sind ein faszinierendes Forschungsfeld, das die Molekularbiologie eröffnet hat.
Die Autoren
Dr. Johann de Vries, 34 Jahre, studierte Biologie in Bielefeld und Oldenburg. Er promovierte 1994 bei Prof. Wackernagel mit einer Arbeit über Proteine der DNA-Reparatur und -Re-kombination bei Bakterien. Von 1992 bis 1994 war er Projektleiter (Entfernung von Schwermetallen aus Kompost) im Technologiepool an der Fachhochschule Emden. Seit 1995 befaßt er sich im Rahmen der Sicherheitsforschung zur Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen u.a. mit der Entwicklung von Monitoringverfahren für rekombinante DNA in der Umwelt.
Prof. Dr. Wilfried Wackernagel (56) lehrt seit 1982 Genetik im Fachbereich Biologie. Nach der Promotion zwei Jahre Forschung an der Yale-Universität, USA. Habilitation 1976 an der Universität Bochum. Seine Forschungsgebiete sind die molekularen Mechanismen der genetischen Rekombination, der DNA-Reparatur und des DNA-Transfers bei Bakterien einschließlich praktischer Anwendungen. Er ist seit fünf Jahren Mitglied der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland.