Presse & Kommunikation
EINBLICKE NR.26 | OKTOBER 1997 |
FORSCHUNGSMAGAZIN DER CARL VON OSSIETZKY UNIVERSITÄT OLDENBURG
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Inhalt
- Kinderlosigkeit und Künstliche Befruchtung
- Recyclebares Mikrochip-Design
- Wandernde Gene
- Ökologische Unternehmensführung oder: Wie werden die Bösen die Guten?
- Quellenbibliographie setzt neue Maßstäbe zur Rhetorikforschung
- Die Tradition des Niederländischen in Ostfriesland
- Nachrichten der Universitätsgesellschaft
- Notizen aus der Universität
- Summaries
Die Tradition des Niederländischen in Ostfriesland
von Marron C. Fort
Die Ostfriesen von heute sprechen Hoog un Platt un over anner Lü, aber zwischen 1650 und 1850 war Ostfriesland ein Dreisprachenland. Im reformierten Westen lehrte und predigte man auf niederländisch, im lutherischen Osten war die Sprache der Schule und der Kanzel Hochdeutsch. In beiden Landesteilen aber war die lingua franca Niederdeutsch.
Im Jahre 1595 setzten die Emder Bürger den von dem Grafen Edzard II installierten Rat ab und nahmen die gräfliche Burg ein. Edzard II wurde gezwungen, seine Residenz nach Aurich zu verlegen, und durch den Vertrag von Delfzijl vom 15. Juli 1595 mußte er sich verpflichten, auf den Großteil seiner Rechte in Emden zu verzichten. Die vereinigten Niederlande unterstützten dieses Unternehmen, indem sie eine Schutztruppe nach Emden schickten, die erst 1744 wieder abzog. Emden erwarb als Satellit der Niederlande fast die Rechtsstellung einer freien Reichsstadt und schloß sich mit dem reformierten Südwesten immer enger an die kalvinistische Kirche der Niederlande an, so daß im Laufe des 17. Jahrhunderts Niederländisch zur Standardsprache des gehobenen Bürgertums wurde. Im Gegensatz zum reformierten Emden bildete Aurich den Mittelpunkt des lutherischen Ostens, dessen Schul- und Kirchensprache Hochdeutsch war.Seit dem frühen 16. Jahrhundert gibt es in Ostfriesland öffentliche Schulen, und bereits 1545 führte Gräfin Anna die Schulpflicht ein. Allerdings wurden Reformierte und Lutheraner getrennt unterrichtet. Diese Glaubensspaltung wurde 1595 durch den Vertrag von Greetsiel festgeschrieben, nach dem in Emden ohnehin nur noch die reformierte Religion gelehrt werden durfte.
Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war die Sprache der reformierten und lutherischen Schulen jedoch Niederdeutsch. Die Emder Schulordnungen aus den Jahren 1577 und 1596 sind niederdeutsch verfaßt, ebenso die als Schulbuch in ganz Ostfriesland verwendete Arithmetica des Rechenmeisters Hermann Fresenborch.
Erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, als die lutherischen Gemeinden des Ostens zum Hochdeutschen und die reformierten Kirchen zum Niederländischen übergingen, paßten sich die Schulen in den jeweiligen Gebieten den Kirchen an. Das Niederdeutsche hörte auf, Schriftsprache zu sein, blieb jedoch die bevorzugte Umgangssprache im gesamten ostfriesischen Raum.
Infolge der Freiheitskämpfe in den Niederlanden strömten zwischen 1570 und 1600 mehr als 6.000 reformierte niederländische Flüchtlinge nach Emden. Obwohl am Anfang des 17. Jahrhunderts Niederdeutsch noch Schul- und Kirchensprache war und kalvinistische Theologen wie Menso Alting und Daniel Bernhard Elshemius in niederdeutscher Sprache ihre Predigten hielten, wurde das Niederländische neben Nieder- und Hochdeutsch zur dritten Handelssprache. Auch in den Kirchen und Schulen wurde auf niederländisch gepredigt und unterrichtet.
Seit der Reformation bestand auch eine engere Bindung zwischen Ostfriesland und Groningen. Ubbo Emmius, in Greetsiel geboren und Rektor der Leeraner Lateinschule, wurde 1614 der erste Rektor der neugegründeten Groninger Universität. Von dieser Zeit an studierten die reformierten ostfriesischen Theologiestudenten in Groningen oder Leiden.
Der Schriftsprachenwechsel um 1650
Bis um 1650 war die Schriftsprache in Ostfries-land Niederdeutsch. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ging man in den lutherischen Gemeinden zum Hochdeutschen, in den reformierten zum Niederländischen über. Trotz der Vorherrschaft der beiden Standardsprachen im Schriftverkehr blieb die Umgangssprache Niederdeutsch. Das Niederländische hat das Niederdeutsche zwar beeinflussen, aber nicht verdrängen können, und bis 1700 wurde Niederdeutsch - vor allem im privaten Schriftverkehr - geschrieben.Das Niederländische wurde zwar gelesen, aber nicht immer verstanden. Auch weiß man, daß viele Ostfriesen die Aussprache nicht beherrschten. Die Tatsache, daß sich ostfriesische Studenten seit 1625 in zunehmendem Maße an der Groninger Universität einschrieben, bedeutete ebenfalls nicht, daß sie die niederländische Standardsprache wirklich sprachen. Denn das Groninger Niedersächsisch unterscheidet sich noch heute kaum von den Dialekten Emdens, Leers, Westoverledingens, der Krummhörn und des Rheiderlandes und wurde somit zur grenzübergreifenden Umgangsprache. Zwar war Niederländisch neben Latein die Sprache der Universität, aber es wurde vermutlich nur von einer verhältnismäßig kleinen Minderheit tatsächlich gesprochen.
Blütezeit des Niederländischen
Von 1600 - 1650 waren von den etwa 45 Pastoren im reformierten Westen lediglich fünf gebürtige Niederländer. Fünfzig Jahre später lag ihr Anteil bei einem Drittel - mit erheblichen Konsequenzen. 1652 führten die reformierten Emder das erste niederländische Gesangbuch ein, weil sie das Niederländische für eine "bessere" Sprache hielten. 1676 folgte eine niederländische Fassung des Katechismus, der auch für die Schulen im Unterricht verbindlich gemacht wurde. So schnell konnte die Sprache jedoch bei den Emdern nicht Fuß fassen. Um 1700 schrieb ein holländischer Theologe über die Sprachfähigkeit der Bürger: "Emden is een plaats, daar mijn moedertaal men nog zoo kundig niet is", und bei der Vorstellung eines reformierten Geistlichen jener Zeit bemerkte ein Beamter, daß er "in holländischer Sprache (predigte), und war dieses jämmerlich anzuhören, inmassen er solche weder verstehet noch zur Pronunziation eniges Geschick hat". Dennoch: Von 1670 bis ins 19. Jahrhundert hinein schrieben immer mehr Emder Niederländisch. Zwischen 1690 und 1730 finden wir niederdeutsche und niederländische Protokolle bei den Zünften, Gilden und Innungen, ab 1740 nur noch niederländische. Von 1700 an sind auch Testamente und Kaufverträge hauptsächlich in niederländischer Sprache abgefaßt. Und da Niederländisch auch Kirchensprache war, galt im Südwesten Ostfrieslands folgende Regel: Niederdeutsch war Umgangssprache, Latein die Gelehrtensprache und Niederländisch und Hochdeutsch waren die üblichen Schriftsprachen.Zwischen 1660 und 1740 erlebte man einen ständigen Anstieg der niederländischen Drucke in der Stadt Emden. Wenn im Zeitraum 1600-1650 es nur 5% niederländische Drucke gab, so betrug zwischen 1660 und 1740 der Anteil niederländischer Bücher an der Gesamtzahl der gedruckten Werke 56%.
Angliederung an Preußen
Als Ostfriesland 1744 an Preußen fiel, verbot die preußische Regierung 1748 den Ostfriesen das Studium an ausländischen Universitäten und wies Studierwillige der damaligen Universität Lingen zu. Die neuen Herrscher dachten vor allem daran, die Beziehungen des reformierten Südwestens zu der Universität Groningen zu beeinträchtigen. Diese Regelung wurde nicht sonderlich streng gehandhabt, was man auch daran sehen konnte, daß ein Studienjahr in den Niederlanden doch zugestanden wurde. Es ging den Preußen vor allem darum, das Monopol der niederländischen Sprache in den reformierten Landesteilen zu brechen und einen gewissen Spielraum für das Hochdeutsche zu schaffen.Der Emder Kirchenrat, der eine Lockerung der geistig-kulturellen Bindungen an die Niederlande und eine Schwächung der eigenen Macht befürchtete, klammerte sich an die niederländische Sprache, die auch nach 1744 die Unterrichtssprache an den reformierten Schulen blieb. Der Kirchenrat, der 1750 gegen die Nominierung eines Hochdeutschen durch den Magistrat stimmte und einen Niederländer berief, mußte durch den preußischen Minister zum Nachgeben gezwungen werden. Von den sechs damals in Emden wirkenden Pastoren predigte nur einer Hochdeutsch. Von 1757 bis 1847 wurden alle Sitzungsprotokolle und Kirchenbücher niederländisch verfaßt.
Die Verordnungen des Emder Magistrats wurden in beiden Sprachen gedruckt, aber zwischen 1751 und 1800 gab es nur 30% hochdeutsche gegenüber 70% niederländischen Verordnungen. Erst nach der Gründung der ersten deutschsprachigen lutherischen Schule in Emden im Jahre 1749 beschloß der Emder Kirchenrat 1754 Hochdeutsch an den reformierten Schulen als Unterrichtsgegenstand einzuführen, um zu verhindern, daß besorgte reformierte Eltern ihre Kinder an die (hoch)deutschsprachigen lutherischen Schulen schickten.
Das in Emden gesprochene Niederländisch war von zweifelhafter Qualität. Die Pastoren, die zum größten Teil in den Niederlanden studiert hatten, sprachen besser Niederländisch als die Lehrer, die keine Gelegenheit gehabt hatten, die Sprache in Holland zu erlernen, aber, wie ein Beobachter im Jahre 1843 bemerkte: "In Emden wird noch in der Kirche und der Volksschule die holländische Sprache gebraucht; diese ist aber, vorzüglich in der Schule, so sehr mit dem deutschen oder dialektischen Platt versetzt, daß der Holländer es selten für klassisch erkennt."
Im Bereich der Drucke hielten sich am Anfang der preußischen Herrschaft (1744-1760) die niederländischen (48%) und hochdeutschen (52%) Drucke in Emden die Waage. Um 1800 standen lediglich 22% hochdeutsche Drucke 67% niederländischen Drucken gegenüber. Es waren nicht nur theologische und juristische Werke, sondern auch Unterhaltungsliteratur und Kinderbücher.
Im 18. Jahrhundert festigte sich trotz der Angliederung an Preußen die niederländische Sprache im Volk, was auch auf den regen wirtschaftlichen Austausch zwischen dem reformierten Ostfriesland und den Niederlanden zurückzuführen ist. Als Friedrich der Große 1751 und 1755 Ostfriesland besuchte, empfingen ihn die Emder Fisch- und Gemüsehändlerinnen mit niederländischen Inschriften. Aber es verhielt sich damals mit dem Niederländischen in Ostfriesland wie mit dem Englischen im heutigen Deutschland: Man sprach es oft, fließend und meistens schlecht.
Das Ende der sprachlichen Zweiteilung
Da sich die reformierte Kirche mit ihrer niederländischen Sprache dem Rationalismus der Aufklärung widersetzte, wurden vom Anfang des 19. Jahrhunderts an sowohl Niederländisch als auch Niederdeutsch in gebildeten Kreisen als Sprachen der Kulturlosigkeit und des Rückstandes gesehen. Das goldene Jahrhundert der Holländer, das 150 Jahre zuvor politische und kulturelle Überlegenheit ausgestrahlt hatte, war vorbei. Die Sprache Lessings, Klopstocks, Goethes, Schillers und der Frühromantik hatte die von Hooft, Cats und Vondel weit hinter sich gelassen.Die Sprache der preußischen Verwaltung und aller ostfriesischen Zeitungen und Zeitschriften wurde endgültig Hochdeutsch, aber dieses Hochdeutsch wurde um 1800 in den reformierten Landesteilen nicht überall verstanden. Die Tatsache, daß - trotz der früh eingeführten Schulpflicht - nicht mehr als 40% der damaligen Bevölkerung des landwirtschaftlich geprägten Ostfrieslands lesen konnten, stand der Verbreitung des Hochdeutschen auch im Wege. Bereits 1786 schrieb ein anonymer Autor im Neuen Hannöverschen Magazin: " ... die plattdeutsche Sprache [ist] eine unglückliche und fast undurchdringliche Scheidewand zwischen den niederen, und ... den höheren und gebildeteren Ständen ..." Ähnlich wurde auch das Niederländische gesehen. 1800 schreibt ein ebenfalls anonymer Schriftsteller in der Zeitschrift Pallas: " ... Daß sich die ... [holländische Sprache] bis hierzu noch eben keiner großen Fortschritte in der Kultur zu rühmen habe, und der Deutschen um vieles nachstehe, ist ... bekannt." 1802 schreibt Pallas wieder, daß der Gebrauch der niederländischen Sprache die Konfessionsgrenze verstärke und daß man auf deutschem Boden Deutsch sprechen solle. So wurde das Niederländische als Fremdkörper in Ostfriesland und als eine rückständige, kulturfeindliche Bedrohung für die nationale Einheit Deutschlands gesehen und bekämpft.
Ab 1818 forderte die hannoversche Regierung die Einführung der hochdeutschen Predigt in den reformierten Kirchen, acht Jahre später wurde angeordnet, daß die Kirchenbücher in hochdeutscher Sprache geführt werden müßten. Es befremdet, daß die Einführung des Hochdeutschen aber erst 1845 für die Schulen verbindlich gemacht wurde. Damit verschwand das Niederländische zwischen 1850 und 1880 endgültig und damit auch die alte Überzeugung, das Niederländische der Statenbijbel sei für einen guten reformierten Christen die einzige Sprache der Andacht und des Schulunterrichts.
Das Kind mit dem Bade
Die Ostfriesen sagten sich von der Sprache und Kultur eines flächenmäßig kleinen, aber, sub specie aeternitatis gesehen, kulturell sehr großen Landes los. Heutzutage sprechen fast alle ostfriesischen Abiturienten Englisch, aber nur eine Handvoll beherrscht das Niederländische. Junge OstfriesInnen wünschen sich einen Studienaufenthalt in Stanford oder an der Sorbonne, aber an ein Jahr in Nijmegen, Utrecht, Amsterdam oder Groningen denken die wenigsten. Die weitgereisten Deutschen sehnen sich nach dem Internationalen, dem Multi- und Interkulturellen, dem Exotischen; aber der Nachbarstaat, der Tausende von Menschen aus allen Rassen und Religionen dieser Erde beherbergt, von denen sich die meisten auch noch als Niederländer betrachten, scheint nicht einmal die Grenzlandbewohner zwischen Bunde und Wittmund zu reizen: hoe dichter bij de paus, hoe slechter christen.Seit dem zweiten Weltkrieg gleichen die Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden einem ewigen Schachspiel, bei dem beide Parteien patt sind. Wir können nicht erwarten, daß die älteren Niederländer Besetzung, Kollaboration, Judendeportation und de hongerwinter 1944/45 vergessen oder verzeihen, aber für die jüngeren Angehörigen beider Völker, vor allem im Grenzraum, muß ein auf Versöhnung und engere Zusammenarbeit ausgerichteter Neubeginn doch möglich sein. Oranje boven! Ik hoop op betere tijden.
Der Autor
Dr. Marron C. Fort, seit 1986 Akademischer Oberrat und Leiter der Arbeitsstelle Niederdeutsch und Ostfriesisch in der Universitätsbibliothek Oldenburg, wuchs in New Hampshire (USA) auf. Er studierte Germanistik, Anglistik, Niederlandistik und Skandinavistik sowie Mathematik in Princeton, Philadelphia und Gent. Nach einem Studienaufenthalt in Deutschland promovierte er mit einer Arbeit über die niederdeutsche Mundart Vechtas. Von 1969 bis 1985 war Fort Professor für Germanistik an der Staatsuniversität von New Hampshire (USA). Zwei Gastprofessuren führten ihn 1976/77 und 1982/83 an die Universität Oldenburg, wo er 1986 endgültig blieb und sich insbesondere dem Saterfriesischen und den niederdeutschen Dialekten zwischen Lauwersmeer und Weser widmet.