Seite 6
UNI-INFO
40. Jrg. 3/13
entscheidende Fördermaßnahme des
Lehrers kann dann darin bestehen, ma-
thematische Beziehungen in konkreten
Situationen zu identifizieren und Unter-
richtsmaterialien zur Festigung dieser
Fähigkeit einzusetzen.
Diagnostizieren und Fördern: An dem
Beispiel sieht man, wie eng das eine
mit dem anderen zusammenhängt, wie
wenig sich die beiden Aspekte im Un-
terricht trennen lassen. Stets gilt es,
das eine unmittelbar mit dem anderen
zu verbinden – und dies im laufenden
Prozess. Diagnostizieren und Fördern
sind in Echtzeit eins. Daher ist es so
wichtig, dass angehende LehrerInnen
die Fähigkeit zu einer Förderdiagnostik
bereits in ihrer Ausbildung erwerben.
Da ist es gut und förderlich, dass die
LehrerInnen immer mehr ins Blickfeld
rücken, wenn es um die Frage geht,
was maßgebend ist für schulische und
unterrichtliche Wirksamkeit. Es kommt
also auf den Lehrer an. Denn inzwi-
schen wissen wir, dass genau der Lehrer
erfolgreich ist, der aktiv ist, der sich
durchweg verantwortlich fühlt, der den
SchülerInnen ständig Einsicht in den
Stand ihres Lernens ermöglicht. Und
bei diesem neuen Anforderungsprofil
hat die Diagnostik einen geradezu he-
rausragenden Stellenwert.
Die Rechnung ist einfacher noch als die
Mathematikaufgabe von der Geburts-
tagsgruppe, die einen Ausflug macht:
Verfügen die entsprechend ausgebil-
deten LehrerInnen über eine entwickelte
diagnostische Kompetenz, erhöht das
die Unterrichtsqualität. Dazu müssen
LehrerInnen die Wirksamkeit ihres ei-
genen Tuns kontinuierlich überwachen
– und hinterfragen. Die SchülerInnen
werden davon profitieren.
Prof. Dr. Astrid Fischer ist Mathematikdi-
daktikerin an der Universität Oldenburg.
Dr. Johann Sjuts ist Außerplanmäßiger
Professor für Mathematikdidaktik an der
Universität Osnabrück sowie Oberstudi-
endirektor und Leiter des Studienseminars
Leer für das Lehramt an Gymnasien.
E
s ist eine ganz normale Aufgabe
aus dem Mathematikunterricht.
„Die Geburtstagsgruppe macht einen
Ausflug“, so beginnt sie. „Die Kinder
fahren mit einem roten und einem grü-
nen Kleinbus. Im roten Bus sitzen 13
Kinder. Im grünen Bus sitzen 6 Kinder
weniger als im roten Bus. Wie viele
Kinder sitzen in beiden Bussen zusam-
men?“
Die meisten SchülerInnen lösen die
Aufgabe richtig: Es sind 20 Kinder.
Aber immer wieder kommt es auch vor,
dass ein Schüler antwortet: Es sind 19
Kinder. Was genau steckt dahinter? Und
wie kann man als LehrerIn hier helfen?
„Diagnosekompetenz“ nennen Didak-
tiker und Bildungsforscher die Eigen-
schaft, über die der Lehrer verfügen
muss, um hier zusammen mit dem
Schüler zur richtigen Lösung zu kom-
men. Dafür müssen LehrerInnen prin-
zipiell in der Lage sein, Lernvorgänge
ihrer SchülerInnen zu diagnostizieren,
also zu erkennen, was in den Köpfen
vorgeht, um die individuell passende
Lernunterstützung zu finden.
Eine echte Herausforderung also, die
anzunehmen in der Vergangenheit nicht
eben selbstverständlich war. Wenig
erfreulich waren dann auch die PISA-
Ergebnisse der vergangenen Jahre, was
diagnostische Fähigkeiten deutscher
LehrerInnen angeht. Doch inzwischen
bewegt sich viel in der Lehrerausbil-
dung; in der Diagnostik ist ein regel-
rechter Aufschwung zu verzeichnen
– nicht erst seit Bekanntwerden der
Forschungen des renommierten neu-
seeländischen Bildungsforschers John
Hattie, demzufolge die Lernerfolge der
SchülerInnen in hohemMaße vom Kön-
nen der LehrerInnen abhängen.
Die Förderdiagnostik voranzubrin-
gen, das ist seit drei Jahren das zen-
trale Anliegen von OLAW – ein im
Didaktischen Zentrum angesiedeltes
Verbundprojekt, in dem sich regionale
Partner engagieren: die Universität
Oldenburg, die Studienseminare Ol-
denburg, Leer, Aurich und Wilhelms-
haven sowie zahlreiche Praktikums-
und Seminarschulen. Für die gezielte
Weiterentwicklung von diagnostischer
Kompetenz sind die MacherInnen von
OLAW bereits ausgezeichnet worden:
In dem Wettbewerb „Von der Hoch-
schule in den Klassenraum: Neue Wege
der Zusammenarbeit zwischen Hoch-
schulen und Studienseminaren in der
Lehrerausbildung“ des Stifterverbands
für die Deutsche Wissenschaft.
Wie kann Diagnosekompetenz im Ein-
zelnen aussehen? Um bei dem Eingangs-
beispiel der Mathematikaufgabe zu blei-
ben: Zunächst einmal muss ein Schüler
die konkreten Angaben im Text – Busse,
Kinder, Busfarbe und Kinderanzahl –
richtig erfassen. Es geht also darum, den
Text richtig zu lesen und zu verstehen.
Allerdings reicht dies nicht.
Wichtig ist es in einem zweiten Schritt,
sich vom Konkreten zu lösen und das
Augenmerk auf jene Schlüsselwörter
zu richten, die mathematische Bezie-
hungen ausdrücken – also die Wör-
ter „weniger“ und „zusammen“. Eine
„Auf den Lehrer kommt es an“
Was entscheidet über den Lernerfolg der Schüler? Nicht zuletzt die „Diagnosekompetenz“ der Lehrer. Diese sei bereits in der
Ausbildung fest zu verankern – und stelle eine echte Herausforderung dar / Von Astrid Fischer und Johann Sjuts
Im Klassenzimmer: „Wie kann Diagnosekompetenz im Einzelnen aussehen?“
Foto: willma... /photocase.com
LehrerInnen müssen in der Lage
sein, die individuell passende
Lernunterstützung zu finden.
Diagnostizieren und Fördern
sind in Echtzeit eins.
SchülerInnen ständig Einsicht
in den Stand ihrens Lernens
ermöglichen.
„Es gibt Anzeichen, dass sich etwas ändert“
Warum das Bild vom Fußball als Arena „echter“ Männlichkeit brüchig wird / Interview mit dem Sportsoziologen Thomas Alkemeyer
UNI-INFO: Der US-amerikanische
Fußballer Robbi Rogers hat sich jüngst
als homosexuell geoutet. Ist das Eis im
Profifußball nun gebrochen und werden
weitere Outings folgen?
ALKEMEYER: Ich
kann mir durchaus
vorstellen, dass sein
Outing weitere ho-
mosexuelle Fußbal-
ler ermutigt.
FRAGE: Ein Be-
freiungsschlag ist
es aber wohl nicht.
So hat Rogers nach seinem Outing sei-
ne Profikarriere gleich an den Nagel
gehängt.
ALKEMEYER: Zwar mag ein der-
artiges Outing kein Befreiungsschlag
sein, aber es trägt doch dazu bei, das
Bild des Fußballsports als einer Arena
„echter”, hegemonialer Männlichkeit
brüchig werden zu lassen. Aber in der
Tat ist es zweifelhaft, dass auch Spieler
diesen Schritt wagen, die ihre Karriere
fortsetzen möchten.
UNI-INFO: Homosexualität ist weitge-
hend in die Bilderwelt des westlichen
Europas eingedrungen und längst kein
Tabu mehr. Im Gegensatz dazu wirkt
der Profifußball noch wie eine homo-
phobe Gladiatoren-Enklave. Warum?
ALKEMEYER: Ein Blick in die Ge-
schichte kann hier zur Klärung bei-
tragen. Der Wettkampfsport hat sich
im Europa des 19. Jahrhunderts auch
als ein Refugium für kulturelle Kon-
struktionen von Männlichkeit ausdif-
ferenziert – die sich über Körperkraft
definierten, über die Bereitschaft zur
Investition des eigenen Leibes in der
Auseinandersetzung mit Gegnern und
Gefahren, über pure Willenskraft etc.
Ein solches männliches Subjektideal ist
in anderen Bereichen des gesellschaft-
lichen Lebens obsolet geworden, zum
Beispiel in der sich industrialisierenden
Arbeitswelt. Physische Kraft verlor auf-
grund der maschinisierten Produktion
und der sich ausdehnenden Büroarbeit
tendenziell an Bedeutung.
UNI-INFO: Während deren Bedeutung
im Wettkampfsport zunahm?
ALKEMEYER: Ganz genau. Hier
konnte das Ideal weiterhin aufgeführt,
überhöht und in körperlichen Hand-
lungsvollzügen beglaubigt werden. Aus
diesem Grund haben die männlichen
Repräsentanten des Sports bis weit ins
20. Jahrhundert hinein vor allem mit
biologisch-medizinischen Argumenten
gegen die Teilnahme von Frauen am
Wettkampfsport gekämpft, auch und
gerade im Fußballsport.
UNI-INFO: Inwiefern gerade dort?
ALKEMEYER: Der Fußballsport hat
über viele Jahrzehnte hinweg eine ei-
gene männliche Mythologie entwickelt,
zu der die Namen großer Spieler ebenso
gehören wie Spielstätten – Camp Nou,
Cordoba, Wembley. Auch Spielzüge
und Gesten, die sich in ein kollektives
männliches Gedächtnis eingebrannt
haben. Lange Zeit sind kulturelle Kon-
strukte von Männlichkeit und Weib-
lichkeit durch die körperlichen Auffüh-
rungen des Sports naturalisiert worden;
sie haben hier geradezu performative
Evidenz erlangt.
UNI-INFO: Zeichnen sich hier gar kei-
ne Veränderungen ab?
ALKEMEYER: Doch, es gibt einige,
die tradierte Vorstellungen von Männ-
lichkeit und Weiblichkeit herausfor-
dern: Frauenkörper werden muskulöser,
das Fernsehen zeigt Boxerinnen, deren
Nasen bluten – und die sich freilich
komplementär dazu auch immer wie-
der als weiblich und „sexy“ in Szene
setzen lassen. Umgekehrt wird zum
Beispiel im gegenwärtigen System-
fußball jene traditionelle Männlichkeit
immer störender, die sich primär durch
Dominanz, Führungsanspruch und Po-
tenzgehabe auszeichnete.
UNI-INFO: Was rückt denn an die
Stelle?
ALKEMEYER: Fähigkeiten wie Spiel-
intelligenz, die Artistik und Eleganz
der Bewegungen, Erfindungsreichtum
und ein Sinn für soziale Interaktionen.
Womöglich ist die gegenwärtig zu be-
obachtende Homophobie einiger Fans
auch ein reaktiver Ausdruck ihres
Gespürs dafür, dass der neue Fußball
eine – wenn auch zarte – Neigung zur
Geschlechtsneutralität hat.
UNI-INFO: Ist aus Ihrer Sicht eine
Atmosphäre im Stadion denkbar, in der
die sexuelle Orientierung einfach keine
Rolle spielt?
ALKEMEYER: Bislang ist das schwer
vorstellbar, aber immerhin gibt es An-
zeichen dafür, dass es dereinst so kom-
men könnte. Wie die Veränderungen
des Spielstils weg vom Kampf hin zu
Technik, Taktik und Systemdenken
und die allmähliche Normalisierung
des Frauenfußballs. Oder auch die Tat-
sache, dass die großen Spieler des ge-
genwärtigen Männerfußballs – Iniesta,
Xavi, Messi, Özil – zwar Stars sind,
aber längst nicht mehr das machohafte
Auftreten jener Spieler haben, die in
früheren Zeiten eine Führungsrolle für
sich beanspruchten.
UNI-INFO: Messi als Vorbote einer
neuen Fußballkultur?
ALKEMEYER: Wenn schließlich
die individuelle Tauglichkeit für ein
Spielsystem stärker über den Einsatz
entscheidet als die sogenannten Füh-
rungsqualitäten, dann könnte mit der
Frage nach der ethnischen Herkunft
auch die Frage nach dem Geschlecht
und der sexuellen Orientierung in
den Hintergrund treten. Wir werden
sehen.
Interview: Matthias Echterhagen
Der Fußballsport hat eine eigene
männliche Mythologie entwickelt.
Konstruktionen von Männlichkeit,
die sich über Körperkraft
definierten.
Der neue Fußball hat eine –
wenn auch zarte – Neigung zur
Geschlechtsneutralität.
1,2,3,4,5 7,8