Presse & Kommunikation

EINBLICKE NR.27 APRIL 1998
FORSCHUNGSMAGAZIN DER CARL VON OSSIETZKY UNIVERSITÄT OLDENBURG

 

Die soziale Lage behinderter Frauen

von Mathilde Niehaus

Das Gutachten zur "Lebenssituation von Frauen mit Behinderungen" im Auftrag der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen soll einen Baustein zur Erstellung eines Aktionsprogrammes zur sozialen Integration behinderter Menschen liefern. Hierzu werden amtliche Daten zur beruflichen und sozialen Situation behinderter Frauen in Teilbereichen aufgearbeitet und betroffene Frauen zu ihrer Lebenssituation und ihren Änderungswünschen befragt. Einige Ergebnisse sind nicht nur für Nordrhein-Westfalen spezifisch, sondern gelten für das gesamte Bundesgebiet.

Die Lebenssituation von Frauen mit Behinderungen ist noch weitgehend ungeklärt. Um Konzepte zu ihrer besseren sozialen Eingliederung zu entwickeln, muß die Lebenssituation behinderter Frauen eingehend analysiert werden." Zu dieser Forderung kam die Landesregierung Nordrhein-Westfalen neben elf weiteren Ansatzpunkten, die bei der Entwicklung neuer behindertenpolitischer Konzepte zu berücksichtigen sein werden, in ihrer Stellungnahme zum Ergebnis der öffentlichen Anhörung "Menschen mit Behinderung - Teil unserer Gesellschaft" im Landtag. Dieser Diskussions- und Handlungsbedarf wird mittlerweile auch von weiteren administrativen Akteuren und politischen Parteien in anderen Bundesländern und von der Bundesregierung gesehen, aufgegriffen und öffentlich verhandelt. Das war nicht immer so. Seit Anfang der achtziger Jahre versuchten betroffene Frauen selbst, sich öffentlich Gehör zu verschaffen. Doch eine gesellschaftliche und sozialpolitische Rezeption der Problemlagen fehlte lange Zeit. Behinderte Frauen solidarisierten sich, bildeten Interessensgemeinschaften wie die "Krüppelfrauen" und stellten ihre Erfahrungen und Themen immer wieder zur Diskussion. Fragen nach der gesellschaftlichen Akzeptanz von Behinderungen standen genauso im Mittelpunkt des Interesses wie Fragen nach dem Einfluß der Sichtbarkeit der körperlichen Schädigung auf ihr Selbstwertgefühl oder Fragen nach Diskriminierungen im Erwerbsleben und bei der Familienplanung. Von Anfang an ging es bei den Diskussionen um die Durchsetzung des Rechts auf Gleichberechtigung, Autonomie und Selbstbestimmung. Ein Ausdruck dieses politischen Gestaltungswillens ist die Bildung von landesweiten Netzwerken von Frauen und Mädchen mit Behinderung, die sich organisatorisch an die Landesverbände der Selbsthilfe oder den Behindertenbeauftragten der jeweiligen Landesregierung angebunden haben. Zur Gründung kam es 1992 in Hessen, 1994 in Niedersachsen und 1995 in Berlin und Nordrhein-Westfalen.

 Das Engagement in den Arbeitsgruppen der landesweit organisierten Netzwerke von Mädchen und Frauen mit Behinderung richtet sich auf die Auseinandersetzung mit den Themen "sexuelle Gewalt gegen behinderte Mädchen und Frauen", "gesellschaftliche Schönheitsnormen und Behinderung", "Sexualität", "Mutterschaft", "pränatale Diagnostik und Humangenetik", "Leben in Einrichtungen" sowie "Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und bei Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation".

 Auf die Anfragen, Diskussionen und Forderungen reagierte das nordrhein-westfälische Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann und erteilte den Auftrag für ein wissenschaftliches Gutachten zur Lebenssituation behinderter Frauen. Auf der Grundlage amtlicher Angaben aus den Statistiken der Arbeitsämter, des Kultusministeriums, der Schwerbehindertenstatistik und des Statistischen Bundesamtes konnten geschlechts- und behinderungsspezifische Aspekte der Lebenslagen von Frauen mit Behinderung herausgearbeitet werden. Eine auf amtlichen Daten basierende Forschung ist allerdings begrenzt, da die Problem- und Selbstwahrnehmungen der Betroffenen vernachlässigt werden.

Um diese Sicht- und Artikulationsweisen für die Politik erkennbar zu machen, wurden Interviews mit betroffenen Frauen zu ihrer Lebenssituation und zu ihren Forderungen geführt. Im Sinne von Multiplikatorinnen und Expertinnen in eigener Sache kamen die Ansprechpartnerinnen des Netzwerkes von Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu Wort. Sie waren an allen Phasen der Gutachtener stellung bis zur Ergebnispräsentation aktiv beteiligt. Bei einem solchen Beteiligungsmodell wird im Sinne einer partizipativen Policy-Analyse ein bewußt multiples methodisches Vorgehen postuliert.

 Vor dem Hintergrund der Auswertungen der qualitativen und quantitativen Daten können Informationsdefizite und Handlungsbedarfe aufgezeigt sowie Ansatzpunkte für zukünftige Arbeiten in Forschung und Praxis vorgeschlagen werden. Im folgenden werden einige Ergebnisse, die nicht nur für das Land Nordrhein-Westfalen spezifisch sind, sondern für das Bundesgebiet gelten, vorgestellt.
 
 

Jede zehnte ist behindert

Angesichts der Tatsache, daß ungefähr jede zehnte Mitbürgerin behindert ist - davon allein haben rund drei Millionen Mädchen und Frauen einen amtlich anerkannten Schwerbehindertenausweis in Deutschland - kann einerseits nicht von einer marginalen gesellschaftlichen Randgruppe gesprochen werden und andererseits nicht davon ausgegangen werden, daß es sich um eine Personengruppe mit homogenen Problemlagen handelt. Es bestehen Differenzen in der gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeit nicht nur in Abhängigkeit von der Art der gesundheitlichen Einschränkung und Behinderung, sondern u. a. auch in Abhängigkeit von der Geschlechtszugehörigkeit, vom Alter, vom Wohnort sowie von der Schicht- und Kulturzugehörigkeit. Diese große Anzahl von Menschen mit Behinderungen scheint unseren alltäglichen Eindrücken zu widersprechen. Immer dann, wenn von Schwerbehinderten die Rede ist, verbindet sich die Assoziation mit Rollstuhlfahrern, blinden oder gehbehinderten Personen, meist mit behinderten Männern. Zu bedenken ist aber, daß auch beispielsweise die Folgen von Herz-Kreislauferkrankungen und Rückenleiden gemeint sind; Einschränkungen und Beeinträchtigungen also, die für die Umwelt äußerlich kaum oder gar nicht erkennbar sind.
 
 

Geschieden, allein und geringes Einkommen

Die Sichtbarkeit oder Nichtsichtbarkeit der Behinderung ist ein wichtiger Faktor für die Art der sozialen Einstellungen, mit denen Behinderte konfrontiert werden. Betroffene Frauen sprechen davon, daß sie für das Nichterfüllen der gesellschaftlichen Idealvorstellung von Schönheit, körperlicher Unversehrtheit und Gesundheit "bestraft" werden. Schwerbehinderte Frauen sind im Vergleich mit den Män nern seltener verheiratet und häufiger geschieden. Die geringen Verheiratungsquoten und die erhöhten Scheidungszahlen können im Zusammenhang mit den an die behinderten Frauen herangetragenen Rollenstereotypen interpretiert werden. Viele Frauen mit Behinderung leben allein. Hinzu kommt, daß die finanzielle Situation vieler behinderter Frauen bemerkenswert schlecht ist und die Erwerbsquote schwerbehinderter Frauen gering ist. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gaben im Bundesgebiet 1992 rund 40 Prozent der Frauen mit Behinderung, die ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit bestritten, ein Nettoeinkommen von unter 1.400 DM an. Die Problemlagen verschärfen sich noch, wenn Pflege und Assistenz erforderlich wird.

 - Aus der Sicht der Betroffenen fehlen wohnortnahe Assistenzangebote. Es fehlen die Möglichkeiten, selbst bestimmen zu können, ob behinderte Frauen von einer weiblichen oder männlichen Person betreut werden wollen.

 In dem Gespräch mit der Ansprechpartnerin des Netzwerkes von Mädchen und Frauen mit Behinderung wird deutlich, daß Frauen mit Behinderungen sich häufig nicht trauen, ihren Hilfebedarf zu artikulieren und einzufordern: "... man muß diesen Bedarf erst mal nach außen dringen lassen. Ja, das ruht alles irgendwo im stillen Kämmerchen, und man spricht hinter verschlossenen Türen darüber, weil man sich ja auch geniert, viele zumindest, zu sagen: Ich brauch da Hilfe. Und es passiert im Endeffekt gar nichts."

 Frauen mit Behinderung fordern eine Unterstützung im Sinne des "peer support", um ihre Interessen formulieren und einfordern zu können: "Also viele haben irgendwie ihr ganzes Leben lang nie die Möglichkeit gehabt, diese Bedürfnisse wahrzunehmen und sie zu formulieren ...". Sie haben die Erfahrung gemacht, daß über sie und nicht mit ihnen entschieden wurde. Eine Erfahrung, die nicht nur für den privaten Bereich gilt, sondern ebenso im Bereich des Erwerbslebens.

 - Die Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Behinderung ist gering. Spezielle Beratungsangebote für Betriebe, Ämter, Kammern und Betroffene sowie wohnortnahe betriebliche Rehabilitationsangebote sind zu empfehlen.

 Das Schwerbehindertengesetz ist ein "Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft" mit dem Ziel, die Integration von Menschen mit Behinderung zu fördern und Nachteile möglichst auszugleichen. Jeder Arbeitgeber/jede Arbeitgeberin mit mehr als 15 Arbeitsplätzen ist verpflichtet, sechs Prozent der Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen (§ 5 SchwbG). Kommt er/sie der Verpflichtung nicht nach, hat er/sie monatlich für jeden unbesetzten Pflichtplatz 200 DM an die Hauptfürsorgestellen zu zahlen. Die Wirksamkeit dieser Instrumente erscheint allerdings begrenzt. Die Beschäftigungspflicht wird durch die Möglichkeit, die geringe Summe von 200 DM pro unbesetzten Platz zahlen zu können, ausgehöhlt. Außerdem gibt es wenige Anreize für die Unternehmen, über die Beschäftigungsquote hinaus, zusätzlich schwerbehinderte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen einzustellen. Drei Viertel der Arbeitgeber/Arbeitgeberinnen stellten keine(n) einzige(n) Schwerbehinderte(n) ein oder kamen ihrer Beschäftigungspflicht nicht in vollem Umfang nach. Die Istquote betrug 1994 im Bundesgebiet West 4,3 Prozent und im Bundesgebiet Ost 2,8 Prozent.

 Die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter dauert im Vergleich mit Nichtbehinderten deutlich länger. Über die Hälfte der arbeitslosen Frauen mit Behinderung zählt zu den Langzeitarbeitslosen. Darüber hinaus zeigen die Arbeitsamtsstatistiken, daß weniger Frauen als Männer an Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation teilnehmen. Der Anteil der Frauen unter den Rehabilitanden, die in eine berufsfördernde Bildungsmaßnahme mit dem Ziel der beruflichen Wiedereingliederung eingetreten sind, betrug 1994 nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit im Bundesgebiet West 29,3 Prozent und im Bundesgebiet Ost 39,4 Prozent. Für die jugendlichen Menschen mit Behinderung sehen die Zahlen für die berufliche Ersteingliederung nach Angaben der Bundesanstalt wie folgt aus: Unter den Eintritten von Rehabilitanden in berufsfördernde Bildungsmaßnahmen mit dem Ziel der beruflichen Ersteingliederung waren 1994 im Bundesgebiet West 37,3 Prozent und im Bundesgebiet Ost 35,5 Prozent Frauen.

 Beratungsangebote für Frauen aber auch für Betriebe und für Handwerkskammern sind erforderlich, um beide Seiten besser über ihre Rechtslage, die Fördermöglichkeiten und über Behinderungen im Arbeitsleben zu informieren. Aus der Perspektive der Frauen mit Behinderung wird die Situation in den Arbeitsämtern nämlich so gesehen, "daß Behinderte ja einfach so 'ne dritte geschlechtslose Masse bilden. Es gibt Männer und Frauen und Behinderte."

 Im Dritten Bericht der Bundesregierung zur Lage der Behinderten und zur Rehabilitation werden die spezifischen Problemlagen von Frauen mit Behinderungen in der beruflichen Rehabilitation dokumentiert. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation und die Bundesanstalt für Arbeit reagierten und implementierten 1996 in Sachsen-Anhalt, Hessen und Rheinland-Pfalz/Saarland ein Modellprojekt. Hierbei handelt es sich um wohnortnahe innerbetriebliche Rehabilitationsmaßnahmen. Neu ist, daß die Rehabilitation nicht mehr an ein Berufsförderungswerk gebunden ist und Frauen direkt über die Umschulungsmöglichkeit informiert werden. Dadurch sollen Frauen mit gesundheitlichen Einschränkungen und Behinderungen ermutigt werden, an einer Umschulung teilzunehmen. Das Modellprojekt mit seinen unterschiedlichen Standorten wird im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung wissenschaftlich evaluiert. Die Begleitforschung dieses fünfjährigen Modells ist an der Universität Oldenburg angesiedelt.
 
 

Fazit

Ein erster Einblick in die vielfältigen Risikolagen von Frauen mit Behinderungen konnte mit Hilfe der amtlichen Statistiken und unter Betroffenenbeteiligung ermöglicht werden. Sonderpädagogische Forschung, verstanden als partizipatorisch orientierte Forschung, kann nicht nur einen Beitrag zur Analyse von Lebenslagen behinderter Menschen leisten und zur Aufdeckung benachteiligender Strukturen beitragen, sondern vor allem auch Betroffene selbst stützen und stärken, ihre Interessen zu artikulieren. Ihnen gehört das Schlußwort: "Wir werden es vielleicht schaffen, daß da mal bei der Landesregierung Gehör gefunden wird, wie auch immer. Und das ist eigentlich so mein Wunsch, weil ich - ja, ich weiß, wie viele gerne vertreten sein möchten, sich aber gar nicht raustrauen, auch aufgrund von Behinderungen, und ihre Forderungen und Wünsche gar nicht so artikulieren können, und ich denke, wenn man die motivieren kann und sagen kann: Macht doch mal was und trefft euch doch mal und kommt mal zusammen und sprecht mal darüber. Wo sind denn jetzt tatsächlich eure Probleme? Daß man dann auch wieder dieses Selbsthilfepotential fördern kann."
 
 

Die Autorin

Dr. Mathilde Niehaus ist seit 1992 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Sonderpädagogik, Prävention und Rehabilitation. Nach dem Psychologiestudium in Marburg und Trier promovierte sie und erhielt 1993 für ihre Dissertation "Behinderung und sozialer Rückhalt" den rheinland-pfälzischen Landesförderpreis "Schwerbehinderte und Arbeitswelt". 1996 übernahm sie die Leitung der Begleitforschung zum Modellprojekt "Wohnortnahe berufliche Rehabilitation von Frauen". Habilitiert hat sich die Wissenschaftlerin 1997 in Oldenburg.