Presse & Kommunikation

EINBLICKE NR.25 APRIL 1997
FORSCHUNGSMAGAZIN DER CARL VON OSSIETZKY UNIVERSIT�T OLDENBURG

 

Lautwandel im Spracherwerb

von Thomas Berg

Im Laufe ihrer Sprachentwicklung ver�ndern Kinder ihre zun�chst falsche Aussprache in Richtung auf die erwachsenensprachliche Norm. So geht beispielsweise der korrekten Wiedergabe des Worts "gut" die Produktion [du:t] voraus. Hierbei stellt sich die Frage, welche Prozesse im mentalen Lexikon des Kindes bei dem Wandel von [d] zu [g] ablaufen. Die Analyse eines Fallbeispiels deutet darauf hin, da� diese und �hnliche Ver�nderungen nicht auf der Ebene der sprachlichen Gr��eneinheiten wie Merkmale, Laute und W�rter, sondern in den Verbindungen zwischen diesen Ebenen zu lokalisieren sind.

Wenn ein Kind in eine Sprachgemeinschaft hineinw�chst, steht es vor der Alternative, entweder seine ersten sprachlichen �u�erungen so lange hinauszuz�gern, bis es in der Lage ist, diese weitgehend erwachsenengetreu wiederzugeben oder W�rter zu einem fr�heren Zeitpunkt hervorzubringen, zu dem es die Voraussetzungen f�r eine korrekte Produktion noch nicht erf�llt. Die Folge ist dann eine von der erwachsenensprachlichen Norm abweichende �u�erung. Trotz nicht unerheblicher individueller Unterschiede bevorzugen Kinder in der Regel die letztere Strategie. Diese erm�glicht es ihnen, durch das Sprechen ihre kognitiven und motorischen F�higkeiten zu schulen ("learning by doing") und ihr Kommunikationsbed�rfnis zu befriedigen - vorausgesetzt, die Diskrepanz zur Erwartung der Erwachsenen steht einer Verst�ndigung nicht im Wege. Allerdings bringt diese Strategie des "Vorpreschens" auch Probleme mit sich. Sie zwingt die Kinder n�mlich, die falsche Aussprache irgendwann durch die richtige zu ersetzen. Die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Aufgabe ergeben, sind nicht zu untersch�tzen, denn die �ber einen l�ngeren Zeitraum erfolgte falsche Wiedergabe kann sich zu einer Aussprachegewohnheit verfestigen, die nicht leicht zu �berwinden ist.

Das Problem der Selbstkorrektur

Wie hat man sich diesen Proze� der Selbstkorrektur vorzustellen? Nehmen wir als Ausgangspunkt das Wort "gut", das von vielen Kindern zun�chst [du:t] gesprochen wird. (Eckige Klammern kennzeichnen die Aussprache, nicht die Schreibung eines Wortes.) Wir k�nnen hier unterstellen, da� das Kind beabsichtigte, ein [g] zu sprechen, dieses Ziel aber nicht erreichte und anstelle des Ziellauts den fehlerhaften Laut [d] artikulierte. Der Einfachheit halber spricht man hier von einem Ersetzungsproze� [g] -> [d].

Nun ist es so, da� Sprache hierarchisch aufgebaut ist und die hierarchisch �bergeordneten Einheiten sich aus einer begrenzten Anzahl von hierarchisch untergeordneten Einheiten zusammensetzen. Der Laut [g] findet sich also in unterschiedlichen W�rtern wieder (vgl. "ganz", "gleich", "Hagel" usw.). Die Strukturierung der Sprache in Form von Ebenen bedeutet, da� eine Lauteinheit wie das [g] ausreicht, um alle W�rter, die ein [g] enthalten, zu "versorgen". Ebenso wie W�rter in Laute zerlegbar sind, lassen sich auch Laute in kleinere Einheiten, die sog. Merkmale, aufspalten. Diese k�nnen eine artikulatorische Basis haben. So teilen sich sowohl das [g] als auch das [k] das Merkmal [velar], weil in beiden F�llen der f�r das Lautbild ma�gebliche Ort im Mund der weiche Gaumen (Velum) ist. Die sprachliche Hierarchie und das Prinzip der Versorgung gr��erer Einheiten durch kleinere lassen sich mit Hilfe von Merkmalen, Lauten und W�rtern ebenso wie Verbindungslinien zwischen ihnen, den sog. Leitungen, wie links gezeigt, veranschaulichen.

Das heranreifende Kind hat nun (mindestens) zwei M�glichkeiten, den Korrekturproze� zu initiieren: Es kann die Reparatur auf der Lautebene vollziehen, indem es den Ersatzlaut [d] durch das korrekte [g] ersetzt. Damit w�re sein Ausspracheproblem durch einen einzigen Eingriff, quasi im Handumdrehen, gel�st. Alternativ dazu kann das Kind den verkehrten Laut in jedem betreffenden Wort einzeln ersetzen. Beide Vorgehensweisen haben deutlich unterschiedliche empirische Konsequenzen. W�hrend die erste bedeutet, da� das [g] nach der Reparatur in allen W�rtern gleich gut beherrscht wird, ist bei der zweiten mit einer lexikalischen Variation zu rechnen, die die korrekte Produktion des [g] in dem einen Wort neben der gleichzeitigen Ersetzung des [g] in einem anderem Wort erwarten l��t.

Dem erwachsenen Beobachter will die erste Methode als die effizientere erscheinen, da sie das Problem als ein einziges Problem identifiziert, w�hrend die zweite Methode das Problem in genau so viele Einzelprobleme aufspaltet, wie es korrekturbed�rftige W�rter im Lexikon des Kindes gibt. Damit wird dieser Weg erheblich zeitaufwendiger und fordert immer wieder die Aufmerksamkeit des Kindes. Jedoch ist es alles andere als klar, ob diese Argumente f�r den Lerner irgendein Gewicht haben. Denn es wird dabei implizit angenommen, da� dem Kind beide Wege zur Verf�gung stehen und vor allen Dingen gleich leicht zu beschreiten sind. Hier sind sicherlich Zweifel an einer allzu mechanistischen Sichtweise angebracht.

Erhebung der Daten

Um zu kl�ren, wie Kinder tats�chlich das Reparaturproblem angehen, ist eine au�erordentlich detaillierte Dokumentation des Spracherwerbsprozesses erforderlich. Sowohl alle relevanten W�rter ("types") als auch ihre m�glicherweise unterschiedlichen Realisationsformen ("tokens") m�ssen erfa�t werden. Eine solche maximale Datendichte l��t sich nur durch ausgiebigen tagt�glichen Kontakt mit dem Lernenden erreichen. Aus dieser Forderung ergab sich nicht nur die Entscheidung f�r eine Einzelfallstudie, sondern auch f�r meine Tochter Melanie als (unfreiwillige) Informandin. Nat�rlich war es nicht m�glich, alle ihre �u�erungen aufzuzeichnen. Es mu�te daher eine Reihe von Beschr�nkungen erfolgen. Zum einen wurde ausschlie�lich die Korrektur von [d] -> [g] und von [t] -> [k] am Wortanfang untersucht. Zum anderen wurden alle Tokens pro Tag nur einmal aufgeschrieben, so da� gegebenenfalls ein und dasselbe Wort, das am gleichen Tag f�nfmal richtig und einmal falsch gesprochen wurde, nur zweimal (einmal als korrekte und einmal als inkorrekte Form) verzeichnet wurde. Die dadurch entstehende Verzerrung der Token-H�ufigkeiten konnte ansatzweise dadurch aufgefangen werden, da� die Tokens t�glich neu notiert wurden. Diese Konzession war aber unvermeidlich, wenn man nicht das Kind den ganzen Tag mit Bleistift und Papier verfolgen wollte (oder konnte). Die Beobachtung erstreckte sich �ber zwei oder mehr Stunden t�glich und erbrachte eine durchschnittliche Anzahl von 30 �u�erungen pro Tag, in denen jeweils unterschiedliche W�rter, die in der Erwachsenensprache mit [k] oder [g] beginnen, vorkamen.

Ergebnisse

Die Untersuchung begann zu einem Zeitpunkt, als Melanie im Alter von 3 Jahren, 4 Monaten und 9 Tagen ihr erstes [k] (in dem Wort "Kinder") korrekt aussprach, nachdem es lange durch [t] ersetzt worden war. Dieser denkw�rdige Tag verdient eine genaue Betrachtung. Aufgezeichnet wurden insgesamt 45 Tokens - 30 W�rter, die in der Erwachsenensprache mit [k], und 15 W�rter, die mit [g] anfangen. Von den 30 W�rtern mit [k] wurden 20 korrekt und 10 inkorrekt ausgesprochen, von den 15 W�rtern mit [g] waren 3 richtig und 12 verkehrt. Das [k] hatte also eine Erfolgsquote von 67 %, das [g] eine Quote von 20 %. Bedenkt man, da� f�r den vorangegangenen Tag keine einzige korrekte Produktion beobachtet wurde, so ist dies ein beachtlicher Lernzuwachs.

Trotz dieses hohen Anfangstempos vergingen bis zur vollst�ndigen Beherrschung des [k] und des [g] immerhin 15 Monate, von denen allerdings nur die ersten 12 in der beschriebenen Weise protokolliert sind. Damit wird bereits ein erstes Ergebnis offenkundig. Melanie war ganz offensichtlich nicht in der Lage, ihr Ausspracheproblem "im Handumdrehen" zu l�sen. Das hei�t, sie konnte eine Korrektur auf der Lautebene nicht vornehmen. Die Graphik auf S. 26 skizziert den Verlauf des Erwerbsprozesses, wobei der Prozentsatz der korrekten [k]- und [g]-Produktionen in Abh�ngigkeit von der Zeit (aufgeteilt in Wochen) dargestellt ist. Die Gesamtzahl der kindlichen �u�erungen, die in die Analyse miteingeflossen sind, betr�gt 11.224.

Die Erfolgskurven f�r [k] und [g] verlaufen nicht gradlinig von unten nach oben. Ganz grob lassen sich drei Phasen unterscheiden. In den ersten 4 Wochen steigt der Prozentsatz an korrekten Produktionen im Verh�ltnis zur Gesamtzahl der Produktionen rapide an (von 0% bis zu 88%). Darauf folgt eine sehr lange Konsolidierungsphase (Woche 5-45), w�hrend der das Korrektheitsniveau trotz zahlreicher Schwankungen ungef�hr gehalten wird. Schlie�lich erfolgt in den letzten 5 Wochen der Datenerhebung ein erneuter Anstieg der Kurven, wobei der Zeitpunkt der 100%igen Beherrschung der beiden Laute wie ausgef�hrt au�erhalb des erfa�ten Zeitraumes liegt. Es ist unschwer zu erkennen, da� das [g] generell weniger gut abschneidet als das [k], es andererseits aber auch auff�llige Parallelen im Verlauf der beiden Kurven gibt.

Die Tatsache, da� sich die Entwicklung von [d, t] zu [g, k] nicht im Nu vollzieht, beinhaltet die M�glichkeit, da� es spezielle Bedingungen gibt, die diese Entwicklung beg�nstigen und so das Tempo des Lautwandels beeinflussen. Vier Faktoren konnten im wesentlichen nachgewiesen werden:

  • der zu erlernende Laut selbst. Wie bereits erw�hnt, weisen Melanies [k]-Produktionen ein h�heres Ma� an Korrektheit auf als ihre [g]-Produktionen.
  • der lautliche Kontext. Dieser Faktor erweist sich als der bedeutendste. Vor Vokalen werden die Velare mit gr��erer Wahrscheinlichkeit korrekt gesprochen als vor Konsonanten. Beispielsweise f�llt Melanie das [g] in dem Wort "gut" leichter als in dem Wort "gleich".
  • die Betonung. In betonter Silbe werden [k] und [g] h�ufiger richtig artikuliert als in unbetonter.
  • das Einzelwort. Wie gut ein und derselbe Laut beherrscht wird, h�ngt auch vom Einzelwort ab, in dem er vorkommt. Dabei k�nnen die W�rter sogar eine recht �hnliche Lautstruktur aufweisen. Zum Beispiel hatte Melanie relativ lange Schwierigkeiten mit dem [g] in "ganz", w�hrend es in "gut" problemlos erworben wurde.

Lokalisation der Selbstkorrektur

Wenn wir nun zu der Frage zur�ckkommen, auf welcher Verarbeitungsebene das Kind seine Reparaturstrategie ansetzt, empfiehlt sich ein erneuter Blick auf die Graphik (s. S. 24). Es gibt in diesem Modell f�nf m�gliche Ansatzpunkte (und damit drei mehr als zun�chst angenommen): die Wortebene, die Verbindungen zwischen der Wortebene und der Lautebene, die Lautebene, die Verbindungen zwischen der Lautebene und der Merkmalebene und schlie�lich die Merkmalebene. Ver�nderungen auf jeder Ebene nehmen sich in der Empirie sehr unterschiedlich aus: Wenn eine Ver�nderung auf der Wortebene erfolgt, m�ssen alle dazugeh�rigen Laute von ihr in gleichem Ma�e profitieren, da das Wort eine holistische Einheit ist und mit jedem seiner Laute gleicherma�en verbunden ist (Fall 1). Wenn eine Verbindung zwischen der Wort- und der Lautebene optimiert wird, wird von dem Lernproze� nur der Laut erfa�t, der am Ende dieser Verbindung steht, da jeder Laut seine eigene Verbindung zu dem ihm �bergeordneten Wort hat (Fall 2). Erfolgt die Ver�nderung auf der Lautebene, so wird diese in allen W�rtern sichtbar, in denen dieser Laut vorkommt (Fall 3). Betrifft der Lernzuwachs eine Leitung zwischen der Laut- und der Merkmalebene, kann auf diese Weise nur die Produktion des jeweiligen Lauts bzw. des jeweiligen Merkmals verbessert werden (Fall 4). Und wenn ein Merkmal zug�nglicher gemacht wird, beg�nstigt dies alle Laute, die mit diesem Merkmal verbunden sind (Fall 5).

Melanies �u�erungen erm�glichen uns nachzuweisen, auf welcher Ebene (oder Ebenen) ihr Lautwandel stattfand. Dazu bietet sich der R�ckgriff auf zwei Eckpfeiler ihrer Entwicklung an: die unterschiedliche Ver�nderung der Velarlaute in verschiedenen W�rtern und die Ereignisse des ersten Tags. Beginnen wir mit letzteren. Ist die Ver�nderung auf der Merkmalebene anzusiedeln, m�ssen die beiden velaren Laute ein weitgehend identisches Erwerbsprofil aufweisen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Laute [k] und [g] besitzen eine gewisse Unabh�ngigkeit voneinander und entwickeln sich bis zu einem bestimmten Grad eigenst�ndig. Damit scheidet die Merkmalebene als Ort der Ver�nderung aus. Ebensowenig �berzeugend ist, da� sich der Wandel auf der Wortebene vollzogen hat. Dies w�rde bedeuten, da� Melanie innerhalb von weniger als 24 Stunden mehrere Dutzend W�rter einzeln reparierte. Dieses kann zwar nicht v�llig ausgeschlossen werden, ist aber aus dem Grund unwahrscheinlich, da� diese Ebene nur zu Einzelver�nderungen f�hrt, w�hrend Melanies Entwicklung eher globalen Charakter hat. Da die Verbindungen zwischen der Laut- und der Wortebene ebenfalls individuellen Charakter haben, kommt diese Ebene aus den gleichen Erw�gungen heraus nicht in Betracht.

Wenn Melanie eine Ver�nderung auf der Lautebene vorgenommen h�tte, m��ten davon viele, wenn auch nicht notwendigerweise alle W�rter profitieren. Diese Vorhersage ist prinzipiell mit ihrem �ber viele W�rter verteilten Lernzuwachs vereinbar. Man w�rde aber bei dieser Erkl�rung ebenfalls erwarten, da� andere Laute von dem Wandel unbeeinflu�t bleiben, da ja auf der Lautebene jedes Element eine Eigenst�ndigkeit gegen�ber seinen Nachbarn besitzt. Eine solche Eigenst�ndigkeit weisen die beiden Velare in ihrer Entwicklung allerdings nicht auf. Beide beginnen sich am gleichen Tag zu ver�ndern und entwickeln sich �ber den gesamten Beobachtungszeitraum nicht v�llig unabh�ngig voneinander. Diese tendenzielle Synchronie der Entwicklung von [k] und [g] l��t sich nicht mit der Hypothese in Ein klang bringen, da� der Wandel auf der Lautebene stattgefunden hat.

�brig bleiben somit die Verbindungen zwischen der Laut- und der Merkmalebene. In der Tat spricht vieles daf�r, die Ver�nderungen, die am ersten Tag stattfanden, auf dieser Zwischenebene anzusiedeln. Insbesondere kann diese Ebene den scheinbaren Widerspruch erfassen, da� die Entwicklung von [k] sowohl eine gewisse Abh�ngigkeit als auch eine gewisse Unabh�ngigkeit von der Entwicklung des [g] aufweist. Die Unabh�ngigkeit erkl�rt sich dadurch, da� zwei eigenst�ndige Leitungen ver�ndert wurden - die von [velar] zu [k] und die von [velar] zu [g]. Die Abh�ngigkeit hingegen ergibt sich aus der Tatsache, da� beide Leitungen in demselben Punkt auf der Merkmalebene zusammenlaufen. Dieses weist darauf hin, da� die anf�nglichen Ver�nderungen in Melanies mentalem Lexikon nicht auf der Ebene sprachlicher Gr��eneinheiten, sondern in den Verbindungen zwischen der Laut- und der Merkmalebene zu lokalisieren sind.

Wenn wir im n�chsten Schritt die unterschiedliche Entwicklung des [g] in "gut" und "ganz" ins Blickfeld r�cken, wird sofort klar, da� die drei unteren Ebenen (siehe Graphik S. 24) ausscheiden, da sie Effekte vorhersagen, die sich �ber eine Vielzahl von W�rtern verteilen m��ten und genau das ja im vorliegenden Fall nicht gegeben ist. Die beiden verbleibenden Ebenen unterscheiden sich in dem lokalen bzw. globalen Charakter des Lautwandels. Ist die Wortebene betroffen, mu� jede Ver�nderung alle Laute des Worts gleicherma�en erfassen. Sind hingegen die Verbindungen zwischen der Wort- und der Lautebene betroffen, bleibt die Ver�nderung auf die jeweilige Einzelverbindung beschr�nkt. Melanies Daten lassen darauf schlie�en, da� der Wechsel von [t] zu [k] (oder [d] zu [g]) ein isolierter Vorgang ist. Es ist kein Beleg vorhanden, bei dem dieser Wechsel parallel mit einer weiteren Ver�nderung in demselben Wort erfolgt. Beispielsweise w�re denkbar, da� in dem Wort "komisch", das Melanie zun�chst als [to:mis] wiedergab, gleichzeitig zur Artikulation des [k] das "sch" das [s] verdr�ngen w�rde. Das Fehlen solcher F�lle legt den Schlu� nahe, da� die Ver�nderung in den Leitungen zwischen dem [g] und der Wortebene stattgefunden hat. In dem vorliegenden Beispiel ver�nderte Melanie also die Leitung von [g] zu "gut" schneller als die von [g] zu "ganz".

Schlu�folgerungen

Als Ergebnis der Untersuchung l��t sich festhalten, da� Melanie von den f�nf skizzierten Ebenen nur zwei in Angriff nahm. Es ist gewi� kein Zufall, da� diese beiden Ebenen Verbindungsebenen sind. Der Lautwandel findet also offenbar nur zwischen, nicht jedoch auf sprachlichen Beschreibungsebenen statt. Die eingangs gestellte Frage, ob Lautwandel ein Ph�nomen der Lautebene oder der Wortebene ist, mu� daher mit einem "Weder-Noch" beantwortet werden.

Wie l��t sich dieser Befund erkl�ren? Zun�chst mu� wiederholt wer den, da� es sich bei der vorliegenden Untersuchung um die Analyse eines Einzelfalls handelt. Es mu� insofern offen bleiben, inwieweit die Ergebnisse verallgemeinerbar sind. F�r Melanies Sprachentwicklung bieten sich zumindest folgende M�glichkeiten an: Es kann sein, da� der Erwerb der sprachlichen Gr��eneinheiten bereits abgeschlossen war, als Melanie sich um eine L�sung ihres Problems mit den Velarlauten bem�hte. Man h�tte dann davon auszugehen, da� sprachliche Einheiten generell vor den sie verbindenden Leitungen erworben werden. Dies k�nnte mit einer Asymmetrie zwischen Perzeption und Produktion zusammenh�ngen, wonach nur das produziert werden kann, was bereits �ber den perzeptuellen Weg Eingang in das Ged�chtnis gefunden hat. So konnte Melanie den Unterschied zwischen "Keller" und "Teller" selbst zu einem Zeitpunkt h�ren, als [k] und [t] in ihrer Sprachproduktion noch zusammenfielen. Diese sprachlichen Einheiten, die ex hypothesi bereits mental repr�sentiert sind, w�ren demzufolge perzeptuelle Einheiten, die das Kind zu einem sp�teren Zeitpunkt f�r die Produktion nutzen kann. Voraussetzung f�r diese Hypothese ist allerdings, da� f�r die Sprachwahrnehmung voll funktionsf�hige Leitungen nicht erforderlich sind.

Daneben besteht auch die M�glichkeit, da� sprachliche Einheiten nicht in dem Ma�e erwerbsrelevante Gr��en wie Leitungen sind. Demnach w�rden sich die dynamischen Aspekte der Sprache zwischen den sprachlichen Beschreibungsebenen abspielen. Dies w�re eine neue Perspektive f�r die Linguistik, die traditionellerweise die sprachlichen Gr��eneinheiten in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt. Zentrale sprachwissenschaftliche Bereiche wie Sprachvariation und Sprachwandel w�rden so in einem neuen Licht erscheinen.

Der Autor
Prof. Dr. Thomas Berg (39), anglistischer Sprachwissenschaftler im FB 11 Literatur- und Sprachwissenschaften, studierte Anglistik und Romanistik in Kiel, Braunschweig und Hull, promovierte 1986 �ber deutsche und englische Versprecher und kam 1990 an die Universit�t Oldenburg. Er habilitierte sich 1995 in der anglistischen Sprachwissenschaft mit einer Arbeit �ber den Zusammenhang von Sprachverarbeitung, Sprachstruktur und Sprachwandel. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Psycholinguistik. Am 1. April 1997 folgte er dem Ruf auf eine Linguistik-Professur an der Universit�t Hamburg.