Presse & Kommunikation
Weibliche Faustgestalten
Von Sabine DoeringWeibliche Faustgestalten - auch für Kenner der deutschen Literatur ist diese Vorstellung zunächst überraschend, hat man doch zumeist die tragisch endende Liebesgeschichte von Faust und Margarete vor Augen und die berühmten Schlussverse von Goethes Faust im Ohr: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ Die polare Aufteilung der Geschlechterrollen in Goethes Drama ist wenig verwunderlich, denn seit den frühesten Überlieferungen der reichen Faust-Tradition, der die europäische Literatur zahlreiche Werke verdankt, ist der Teufelsbündler Doktor Faustus ein Mann. Die älteste Faust-Dichtung, die ‘Historia von D. Johann Fausten’, die 1587 erschien, schildert Faust als Gelehrten, der Aufgaben wahrnimmt, die traditionell einem Manne zukommen: Er ist Forscher, Lehrer, Reisender, Verführer und eignet sich in allen diesen Funktionen die Welt aktiv an. Ja, er wagt es sogar, die festgefügten Grenzen der Religion zu überschreiten und sich um den Preis des eigenen Seelenheils dem Teufel zu verschreiben, weil er mehr wissen will, als ihm innerhalb der Schranken der herkömmlichen Wissenschaften erlaubt ist. Der anonyme Verfasser der Faust-Historia, der sich fest im Weltbild des noch jungen Protestantismus verankert wusste, warnte entschieden vor solcher Grenzüberschreitung; doch haben Fausts enormer Wissensdrang und sein Pakt mit dem Teufel die rasch wachsende Popularität dieser literarischen Gestalt begründet, so dass Faust schließlich zu einer Symbolfigur des modernen, neuzeitlichen Menschen wurde. In Deutschland entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts geradezu eine Ideologie des „Faustischen“, die alle negativen Seiten des Zauberers Faust mehr und mehr ausblendete und den Teufelsbündler zu einem deutschen Nationalhelden zu stilisieren versuchte.
Im Spiel zwischen den Geschlechtern: In der Wiener Inszenierung von 1924 spielte Tilla Durieux die Franziska in Frank Wedekinds gleichnamigen Drama und überzeugte die Kritiker durch die Betonung der maskulinen Anteile der Figur.
|
Enorme Provokationen
Angesichts dieser Entwicklung musste die Vorstellung einer weiblichen Faustgestalt, wie sie sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in erstaunlicher Vielfalt entwickelte, eine enorme Provokation bedeuten. Denn dabei wurden fundamentale Anschauungen über die Ordnung der Geschlechter in Frage gestellt: Wie ist es möglich, dass eine Frau dezidiert „männliches“ Verhalten an den Tag legt, indem sie von großem Wissensdrang beherrscht wird und sich dafür sogar mit dem Teufel einlässt? Und zu welchem Ende muss solch unerhörtes Verhalten führen?
Die Antworten auf diese Fragen sind vielgestaltig. Eine weibliche Faustgestalt muss notwendig scheitern, weil sie dem Grunde ihres Wesen entgegenhandelt, lautet zunächst das banale Fazit einer ganzen Reihe trivialer Dramen, Romane und Versepen des 19. Jahrhunderts. Interessanter jedoch sind jene literarischen Werke, die mit grundlegender Sympathie für den weiblichen Wunsch nach Horizonterweiterung und Grenzüberschreitung den Versuch unternehmen, die Grundformen einer „faustischen“ Existenzweise - also Wissensdrang und Teufelspakt - auf die Lebensbedingungen von Frauen zu übertragen. Drei Beispiele aus der deutschen Literatur können das verdeutlichen.
In dem 1841 erschienenen Roman Gräfin Faustine der Gräfin Ida Hahn-Hahn (1805-1880) wird zum ersten Mal der Versuch unternommen, eine fiktive weibliche Biographie ganz nach dem Vorbild Fausts zu entwerfen. Das Handlungsgerüst des Romans folgt dem beliebten Genre des Gesellschafts- und Eheromans: Im mondänen Dresden der Restaurationszeit führt die verwitwete Gräfin Faustine ein äußerlich ungebundenes Leben und erlaubt sich Freiheiten, die eigentlich nur einem Mann zustehen. Die adelige Verfasserin beschreibt hier Privilegien ihres Standes, die sie aus eigener Erfahrung gut kannte, führte sie doch selbst ein unabhängiges Leben, das viele als „skandalös“ empfanden.
Als Gräfin Faustine nach dem Ursprung ihres ungewöhnlichen Namens gefragt wird, bekennt sie sich ausdrücklich zu ihrer Faust-Nachfolge: „Für mich (…) hat mein Taufpate, Faust, stets ein ganz besonderes Interesse gehabt, unabhängig von dem Zauber seiner Poesie und seiner grandiosen Weltanschauung. Ich wollte immer mein eigenes Schicksal in diesem rastlosen Fortstreben, in diesem Dursten und Schmachten nach Befriedigung finden.“ Mit diesem vehementen Bekenntnis zu Fausts Rastlosigkeit blendet Gräfin Faustine seine negativen Seiten aus: Der Faust, den sie sich zum Taufpaten auserkoren hat, ist kein Teufelsbündler, sondern bemüht sich aus eigenen Kräften um seine Vervollkommnung. Gerade darin offenbart sich seine Anziehungskraft für die weibliche Romanheldin, die sich gegen die Ansprüche der Gesellschaft zu behaupten versucht. Es ist die zeittypische, einseitige Bewunderung Fausts als Inbegriff menschlicher Rastlosigkeit, die ihn für Ida Gräfin Hahn-Hahn als Modell eines weiblichen Lebensentwurfs interessant machte.
Frank Wedekind (1864-1918) bewies stets große Aufmerksamkeit für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und die Kunstformen der Moderne. Zu den verstörendsten Aspekten seines Werks gehört aus damaliger wie heutiger Sicht sein Frauenbild, mit dem er sich von zwei verbreiteten Typisierungen distanzierte: dem bürgerlichen Klischee der liebenden und asexuellen Hausfrau und Familienmutter einerseits, dem Wunschbild der emanzipierten und gebildeten Frau andererseits. Beiden Formen angeblich degenerierter Weiblichkeit stellte Wedekind den Typus der freien Frau entgegen, die sich jenseits aller etablierten Moralvorstellungen uneingeschränkt zu ihrer Sinnlichkeit bekennt. So erfrischend der Kontrast zu den einengenden Normen der bürgerlichen Gesellschaft auch sein mag, bedeutet diese Konstruktion doch wiederum eine starke Typisierung und beruht auf dem Wunsch, das „Wesen der Frau“ auf einen fasslichen Nenner zu bringen.
Das gilt auch für Wedekinds spätes Drama Franziska, das 1911 entstand und im Kaiserreich wie den ersten Jahren der Weimarer Republik zahlreiche Aufführungen erlebte, häufig sogar mit Frank Wedekind und seiner Frau Tilly in den Hauptrollen. Von den ersten Entwürfen an bezog Wedekind sein Drama auf die Figur des Teufelsbündlers Faust: „Plan zu weiblichem Faust fällt mir ein“, notierte er am Beginn der Arbeit in sein Tagebuch.
Weiblicher Faust und Helena in einer Person: Tilly Wedekind übernahm 1912 die Titelrolle in der Franziska ihres Mannes. Das Szenenphoto zeigt sie beim Spiel im Spiel: In der Verkleidung als Helena findet die zunächst als Mann agierende Franziska zu ihrer Weiblichkeit zurück. |
Verklärung der ledigen Mutterschaft
Das moderne Faust-Drama, das Wedekind in seiner eigenen Gegenwart spielen lässt, beruht auf einer perspektivenreichen Grundidee: Die Titelheldin wird durch einen zeitgemäßen Teufel zu einem Leben voller Sinnengenuss verführt. Die achtzehnjährige Franziska bedarf nämlich in ihrem Verlangen nach Freiheit und größtmöglicher Lebensfreude fremder Hilfe und findet Unterstützung in der schillernden Figur des Veit Kunz, der als moderner Mephisto unter anderem die Berufe eines Versicherungsagenten, Talentsuchers und Bühnendichters ausübt. In deutlicher Parallele zu dem dienstbaren Teufel aus der Faust-Tradition verpflichtet er sich, Franziska für zwei Jahre zu dienen. In Wedekinds säkularisierter Dramenwelt gibt es jedoch kein Jenseits mehr, und anders als für den Mephisto der Faust-Historia hat Franziskas Seele für Veit Kunz keinerlei Bedeutung. Statt dessen erwartet er als Gegenleistung für seine Dienste, dass die junge Frau ihm nach Ablauf der Zweijahresfrist für seine eigenen Wünsche zur Verfügung steht. Dabei ist sich der moderne Teufel seiner Sache so sicher, dass er auf einen förmlichen Vertrag verzichtet. An die Stelle eines Teufelspaktes tritt so das Vertrauen auf einen scheinbar unaufhaltsamen Prozess, der das junge Mädchen an seinen Förderer binden wird. Diese Rechnung, die auf der vermeintlichen Überlegenheit des Mannes über die Frau beruht, wird sich allerdings als schwerer Irrtum erweisen.
Denn nach bunten Abenteuern in der Verkleidung eines Mannes, die teilweise dem ersten Teil von Goethes Faust eng nachgebildet sind, erliegt Franziska der erotischen Ausstrahlung eines Zirkusathleten - wie so oft bei Wedekind siegt auch hier die Körperlichkeit über die planende Rationalität. Am Ende fragt Franziska, die inzwischen ein Kind bekommen hat, nicht mehr nach neuem Lebensgenuss, sondern lebt zurückgezogen in einer Künstlerkolonie bei München. Als Mutter konzentriert sie sich nunmehr ganz auf ihren Sohn und hat alle früheren Wünsche und Pläne überwunden. Der utopische Charakter dieses Dramenschlusses ist offenkundig, denn in seiner Verklärung der ledigen Mutterschaft sieht Wedekind von den realen Nöten der unverheirateten Mütter ab, die auch in der liberalen Großstadt München mit erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämpfen hatten.
Den verbreiteten männlichen Projektionen über das Wesen der Frau stellt Wedekind somit sein eigenes, nicht minder stilisiertes Bild vollkommener Weiblichkeit entgegen, dessen wichtigste Komponenten Körperbeherrschung, Genussfähigkeit und Willenskraft sind. Das Ziel eines weiblichen Faust kann für ihn nicht darin bestehen, einfach die Lebensformen eines Mannes zu imitieren. Statt dessen sieht Wedekind die Erfüllung für eine strebende Frau in der Rückbesinnung auf ihren Körper und auf die biologische Fähigkeit zur Mutterschaft. Die eine Form der Verklärung des „Ewig-Weiblichen“ wird damit nur durch eine andere ersetzt.
Das dritte Beispiel einer weiblichen Faustgestalt führt in die deutsche Gegenwartsliteratur. Irmtraud Morgner (1933-1990) gehörte zu den kritischen Schriftstellern der DDR, die sich bei aller grundsätzlich bekundeten Solidarität mit ihrem Staat engagiert mit den Mängeln des sozialistischen Alltags auseinandersetzten. In ihren umfangreichen Romanen - 1974 erschien Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, 1983 die Fortsetzung Amanda. Ein Hexenroman - beschreibt sie ausführlich Gründe für die Anziehungskraft des Vorbilds Faust auf Frauen und schildert das Scheitern des Experiments der Faust-Nachfolge aus feministischer Perspektive.
Bei seiner Veröffentlichung 1974 irritierte der ‘Trobadora’-Roman seine Kritiker aus zwei Gründen: Zum einen verblüffte Morgners Erzählweise, die unterschiedliche Textformen miteinander vermengt und realistische Schilderungen der Alltags- und Arbeitswelt in der DDR mit phantastischen Erzählungen verknüpft und somit die als verbindlich geltenden Maßstäbe des Sozialistischen Realismus auf eine in der DDR-Literatur bis dahin beispiellose Weise missachtet. Zum anderen erstaunte Morgners kritische Darstellung der Lebensbedingungen in der DDR. Denn ihr Roman lässt keinen Zweifel daran, dass im Alltag die Utopie eines humanen, klassenlosen Zusammenlebens noch keinesfalls verwirklicht ist, dass vielmehr das Fortwirken patriarchaler Strukturen die Entfaltung eines selbstbestimmten, freien Lebens für Frauen stark erschwert, wenn nicht gar verhindert. Diese Probleme demonstriert Morgner am Beispiel der Straßenbahnfahrerin Laura Salman, die große Mühe hat, ihre Aufgaben als alleinstehende Mutter mit den Anforderungen ihres Berufes und dem Wunsch nach einem erfüllten Privatleben zu verbinden. Damit konzentriert sich Morgner auf solche praktischen Alltagsfragen, die Wedekind in seiner Verklärung der ledigen Mutter Franziska ausgeblendet hatte. Große Bedeutung kommt in beiden Romanen zudem der Revision des Faust-Mythos zu, den Morgner im Zuge ihrer umfassenden Patriarchatskritik entschieden umdeutet. So erscheint etwa die Walpurgisnacht auf dem Blocksberg als ein von den Männern, den Engeln wie Teufeln, geduldetes Ritual, um unterdrückten Frauen ein Ventil für ihre Unzufriedenheit zu geben - wodurch die soziale Ungleichheit der Geschlechter freilich nur um so stärker befestigt werden soll.
Faust spannender als Margarete
Neben diesen intertextuellen Verweisen auf Goethes Faust diskutiert Morgner die Frage, ob der Teufelsbündler Faust für eine Frau der Gegenwart überhaupt noch Vorbild sein kann. Stärker als ihre Vorgänger schildert sie dabei ausdrücklich den Reiz, den Fausts rastloses Streben auf Mädchen und Frauen ausüben kann, die in ihrem Alltag überwiegend auf passive Rollen festgelegt sind. Am Beispiel ihrer Heldin Laura beschreibt Morgner die „Identifikationsverführung“, die das Mädchen bei der unvermuteten Begegnung mit männlichen Helden der Literatur verspürt: „Und dieser Rastlose war selbstverständlich ich. Dieser von unendlicher Neugier besessene, vom Tatentrieb der Sinne, von Ketzerei. Kann ein dreizehnjähriger Mensch, der gerade zu fühlen beginnt, wie die Kräfte sich in ihm sammeln und versammeln und rumoren, derart vor die Wahl gestellt, den Identifikationsverführungen von Trägheiten erliegen?“ Hier formuliert Morgner eine zentrale Einsicht der modernen Lese-Soziologie: Für heranwachsende Leser - ob Mädchen oder Knaben - ist der Reiz aktiver literarischer Vorbilder wesentlich größer als der passiver und schwacher Figuren. Es ist spannender und verlockender, sich bei der Lektüre an die Stelle Fausts zu setzen als an die der verführten Margarete.
Im Fortgang ihres Romans stellt Morgner jedoch die Einseitigkeit des männlichen Rollenvorbildes Faust in Frage, dem sie insbesondere soziale Isolation und Blindheit für die tatsächlich wichtigen Probleme des menschlichen Zusammenlebens vorwirft. Zunehmend betrachtet sie Faust als Synonym für Technikgläubigkeit und blinden Fortschrittswahn. Damit widerspricht Morgner zugleich dem offiziellen Faust-Bild der DDR, das über Jahrzehnte hinweg Faust als Inbegriff eines „freien sozialistischen Menschen“ proklamiert hatte. Solch politischem Pathos hält die Schriftstellerin nüchtern entgegen, dass auch ein im sozialistischen Geist vereinnahmter Faust kein Beispiel dafür gibt, wie Frauen ihre Alltagsprobleme bewältigen können. Und schlimmer noch: Auch die männlichen Romanfiguren, die dem Rollenvorbild Faust nacheifern, werden durch ihre einseitige Konzentration auf Technik und Wissenschaft in emotionaler Hinsicht verstümmelt. An die Stelle des einseitig männlichen Leitbildes Faust rückt für Morgner nun das Bild der antiken Pandora. In ausdrücklicher Berufung auf Goethes Festspiel Pandora (1810) interpretiert sie diesen griechischen Mythos nicht mehr als Erzählung über den Ursprung des Übels in der Welt, sondern als Paradigma erfüllter Menschlichkeit.
Bei allen Unterschieden stimmen Hahn-Hahn, Wedekind und Morgner in zentralen Aspekten überein: Sie übertragen den Faust-Mythos jeweils auf ihre eigene Gegenwart und verstehen das überlieferte Streben und die Unruhe des Doktor Faustus als Möglichkeit, aktuelle Grenzen weiblicher Lebensformen zu überwinden. Nicht auf eine möglichst werkgetreue Adaption bekannter Faust-Dichtungen kommt es ihnen dabei an, sondern ihre Werke demonstrieren im intertextuellen Spiel anschaulich das provozierende Potential, das die kreative „Arbeit am Mythos“ in scheinbar längst vertrauten Geschichten neu erschließen kann. Denn mit neuen Fragestellungen verändert sich auch der Blick auf die bekannten Stoffe und Traditionen. Doktor Faust ist keineswegs immer ein Mann; und diesem Umstand verdanken wir einige höchst anregende Werke unserer Literatur.
Kontakt: Prof. Dr. Sabine Doering, Tel.: 0441/798-3049