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Integration auf niedrigem Niveau: Die zweite Generation türkischer Migranten
Keine Indizien für „Parallelgesellschaft“
Oldenburg. Als „Integration auf niedrigem Niveau“ kann die Situation der türkischen Migranten, die in der zweiten Generation in Deutschland leben, bewertet werden. Zu diesem Urteil gelangt eine Studie der Arbeitsgruppe Stadtforschung an der Universität Oldenburg, die Prof. em. Dr. Walter Siebel und Dr. Norbert Gestring geleitet und an der Andrea Janßen und Ayça Polat mitgearbeitet haben („Zwischen Integration und Ausgrenzung. Lebensverhältnisse türkischer Migranten der Zweiten Generation“). Für ihre Studie zu den Bereichen Arbeit, soziale Netzwerke und Wohnen befragten die WissenschaftlerInnen in ausführlichen Interviews in Hannover 55 türkische Migranten der zweiten Generation (die also in Deutschland aufgewachsen sind) sowie 41 Personen, die beruflich mit Migranten zu tun haben und über deren Zugang und Platzierung im Arbeits- und Wohnungsmarkt entscheiden.
Auch wenn sich im Vergleich zu der „Gastarbeiter-Phase“ die allgemeine Situation im Durchschnitt etwas gebessert hat, sind insbesondere die Arbeitsverhältnisse oft schwierig. Türkische Migranten sind überproportional als unqualifizierte Arbeiter in der Industrie beschäftigt und haben mit über 22 Prozent die höchste Arbeitslosenquote unter den Migrantengruppen in Deutschland. Dies spiegelte sich auch in den Interviews der Wissenschaftler wider. Einstieg in den Arbeitsmarkt ohne Berufsausbildung, wechselnde prekäre Beschäftigungsverhältnisse bei Zeitarbeitsfirmen und randständigen Betrieben sowie lang andauernde Phasen der Arbeitslosigkeit sind typische Stationen der Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt. Die berufliche Situation der Frauen stellt sich ebenfalls als äußerst problematisch dar. Aber anders als die Männer haben Frauen die „Alternative“ des Hausfrauendaseins.
Zu erklären sind die Probleme mit der Umstrukturierung des Arbeitsmarktes, die zu einem massiven Abbau sicherer und gut bezahlter Arbeitsplätze in der Industrie und zu einer Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse geführt hat. Außerdem verfügen auch in der zweiten Generation türkischer Migranten nur wenige über die schulischen und beruflichen Qualifikationen, die für die Integration in das sichere Arbeitsmarktsegment eine immer größere Rolle spielen. Es gibt zwar von der ersten zur zweiten Generation Fortschritte im Hinblick auf Bildung und Berufausbildung, aber der Abstand zum Durchschnitt der Gesellschaft bleibt hoch.
Ein weiterer Grund ist die Diskriminierung. Türken werden von Arbeitgebern und Personalchefs häufig Eigenschaften zugeschrieben, die insbesondere in den Dienstleistungen und qualifizierteren Berufen besonders negativ bewertet werden. So fehle türkischen Männern die „professionelle Demut“, die gerade in Dienstleistungsberufen besonders gefordert sei. Unakzeptabel - aufgrund des Kundenkontakts - ist in der Dienstleistungsbranche auch das Tragen von Kopftüchern. Von den türkischen Interviewpartnerinnen waren aus diesem Grund fast alle unfreiwillig aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden.
Der wichtigste Schutz gegen soziale Isolation und materielle Einbrüche ist für türkische Migranten die Familie. Die Familie bietet zwar verlässliche gegenseitige Hilfe, aber da die sozialen Netzwerke sozial und ethnisch in den meisten Fällen homogen sind, bieten sie wenig Ressourcen. Die Netzmitglieder können einander weitgehend nur dasselbe bieten: Arbeitslose haben nicht viel Geld, um es zu verleihen, prekär Beschäftigte kennen nur Jobmöglichkeiten innerhalb des schwierigen Beschäftigungssegments, und Türken verfügen nur über Informationen innerhalb des Wohnungsmarktsegments, der Türken zugänglich ist.
Probleme ergeben sich auch aus dem Heiratsverhalten: Es wird sehr früh geheiratet und die Geburt des ersten Kindes hat für die Frauen in der Regel den Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt zur Folge. Außerdem wird innerhalb der türkischen Gemeinschaft geheiratet, die ethnische Homogenität wird verfestigt, es werden keine Brückenköpfe in die deutsche Gesellschaft aufgebaut. Zwei Drittel holen ihre Ehepartner aus der Türkei. Diese Ehepartner können keine sozialen Kontakte in Deutschland einbringen, sie sprechen kein Deutsch, verfügen selten über verwertbare berufliche Qualifikationen und erhalten zwei Jahre lang keine Arbeitserlaubnis.
Die Wohnversorgung der zweiten Generation hat sich gegenüber der ersten Generation deutlich verbessert. Gleichwohl gibt es auch hier insbesondere im Hinblick auf Wohnfläche und Ausstattung der Wohnungen nach wie vor große Unterschiede zu den Deutschen. So lag die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf bei den befragten Migranten mit 20 Quadratmetern deutlich unter dem Durchschnitt Hannovers von 40 Quadratmetern. Zudem wohnen Migranten häufig in Stadtteilen, die von deutschen Haushalten wegen Umweltbelastungen, schlechter Bausubstanz und negativem Image gemieden werden. Ursachen sind ihre Schichtzugehörigkeit, aber auch diskriminierende Praktiken der Vermieter.
Eine der zentralen Frage der Studie war die nach den Folgen ethnischer Segregation (die Konzentration ausländischer Bevölkerungsgruppen in einem bestimmten Wohngebiet). Deshalb wurden die Interviews in zwei typischen Migrantenquartieren durchgeführt: einer Großsiedlung des sozialen Wohnunsgbaus und einem innerstädtischem Altbauquartier. „Unsere Ergebnisse zur Bedeutung der ethnischen Segregation für die Integrations- bzw. Ausgrenzungsverläufe türkischer Migranten widersprechen dramatisierenden Positionen in der aktuellen Debatte“, sagt dazu der Soziologe Dr. Norbert Gestring. Die in Medien und von Teilen der Wissenschaft befürchteten „Parallelgesellschaften“ seien sich in diesen Migrantenquartieren nicht zu finden.
Dass vergleichsweise viele türkische Migranten im „Quartier“ leben, wird von den interviewten Türken selbst mehr oder weniger positiv zur Kenntnis genommen. Türkische Nachbarn sind gern gesehen, weil es mit ihnen weniger Konflikte gibt, man ist froh, in der Nähe der Eltern wohnen zu können, und die bescheidene türkische Infrastruktur wird geschätzt, weil sie den täglichen Einkauf erleichtert. Vereinzelt wird zwar von Frauen die soziale Kontrolle und der Klatsch kritisch angemerkt, aber „es gibt keinerlei Hinweise auf eine Parallelgesellschaft, aus der sich die zweite Generation befreien müsste, um integriert zu werden“, so Gestring.
Die Oldenburger Wissenschaftler ziehen aus ihrer Studie daher den Schluss, dass die ethnische Segregation von der Politik nicht behindert, sondern ausdrücklich zugelassen werden sollte, sofern sie freiwillig erfolgt.
Nähere Ergebnisse zu dem Projekt, das von der Volkswagen-Stiftung im Rahmen des „Niedersächsischen Forschungsverbunds Technikentwicklung und gesellschaftlicher Strukturwandel“ gefördert wurde, sind in„Einblicke“, dem Forschungsmagazin der Universität Oldenburg, zu finden.
Fotos: Reinhard Manzke, Hannover, Tel.: 0511/662532, E-Mail: rmanzke@t-online.de
ⓚ | Kontakt:
Dr. Norbert Gestring Tel.: 0441/798-5368, E-Mail: norbert.gestring@uni-oldenburg.de |